Ans aufhören habe ich nie gedacht

Gerlinde Kaltenbrunner ist Profibergsteigerin. Von den insgesamt 14 Achttausendern fehlt ihr nur einer: der 8611 Meter hohe K2. Am 06. August 2010 kehrt sie knapp unterhalb des Gipfels um. Zum sechsten Mal.

Die Stimmung im letzten Höhenlager am K2 ist gut. Nach einer Tasse Tee, ein, zwei Dinkelbutterkeksen – mehr verträgt man in dieser Höhe nicht – brechen sie Richtung Gipfel auf. Nachdem sie kurz vor der Schlüsselstelle auf 8.200 Metern Höhe per Funk Kontakt zu ihrem Mann im Basislager aufgenommen hat, ruft sie ihrem schwedischen Teampartner Fredrik Ericsson zu: „Das Wetter, es soll noch besser werden!“ Er antwortet euphorisch: „Heute, heute ist unser Tag!“ Eine halbe Stunde später stürzt er an ihr vorbei, 1000 Meter in den Tod. Wie erstarrt hängt sie an ihren Eispickeln in der Steilwand. „Lass es bitte nicht wahr sein!“

Die derzeit beste Alpinistin stellt man sich robuster vor, maskuliner. Zierlich ist sie und äußerst feminin. Zugleich verrät ihr fester Händedruck, dass mehr in ihr steckt. Gerlinde Kaltenbrunner ist Höhenbergsteigerin. Auf ihren Expeditionen zieht es sie dorthin, wo ein Mensch nicht hingehört. In die „Todeszone“, jenseits der 7500 Meter Höhe. Dort, wo die Luft so dünn ist, dass man für jeden Schritt fünfmal atmen muss, wo der Körper auch beim Schlafen nicht mehr regeneriert, wo ein Wind mitunter zum Jetstream mit Geschwindigkeiten bis 150 km/h anwächst.

Wie kann eine so zarte Person in dieser menschenfeindlichen Region überhaupt bestehen? Ultimative Fitness ist die Basis. Dafür trainiert sie hart, vier bis sechs Stunden, jeden Tag, bei jedem Wetter. Konsequent ist sie auch bei ihrer Ernährung. Kleine Sünden müsse sie beim Training sofort büßen, daher verzichtet sie auf alles Ungesunde. Obwohl: „Manchmal gönne ich mir eine Kugel Joghurteis.“ Auch am Berg ist Reduktion ein wichtiges Thema. 13 Achttausender hat sie bereits „by fair means“ bestiegen. Salopp übersetzt heißt das: auf die harte Tour. In kleinen Teams, ohne künstlichen Sauerstoff, ohne Hochträger. Dieser puristische Stil hat ihr große Anerkennung in der Alpinszene eingebracht. Wenn sie sagt, dass es ihr nie um Ruhm und Ehre ging, klingt sie klar und glaubwürdig: „Ich will den Berg spüren. Das geht für mich nur ohne Fremdhilfe.“

In einer von Männern dominierten Sportart hat sie es an die Spitze geschafft. Als sie vor Jahren am Nanga Parbat kasachische Bergsteiger überholte und die Spurarbeit im kniehohen Tiefschnee übernahm, brachte ihr dies den Spitznamen „Cinderella Caterpillar“ ein. Da schmunzelt sie: „Den Respekt meiner Kollegen musste ich mir hart erarbeiten. Die haben mich lange gar nicht ernst genommen.“ Erhöhte Vorsicht und das Hören auf ihr Bauchgefühl haben sie mehrmals, auch kurz vor dem Gipfel, umkehren und damit wohl überleben lassen. „Ich nähere mich den Bergen mit größtem Respekt. Ich bin kein Hasardeur und bereite mich minutiös auf meine Unternehmungen vor. Aber ein Restrisiko bleibt immer.“ Umzudrehen sei für sie kein Scheitern. Sie präzisiert und legt Wert auf die feinen Unterschiede: „Ich mag das Wort ‚Scheitern’ nicht. Umkehren ist kein Versagen. Gescheitert ist eine Expedition erst, wenn einer aus meinem Team nicht mehr nach Hause kommt.“

Dr. Erich Tischler, Dorfpfarrer der Gemeinde Spital am Pyhrn in Österreich, war es, der ihre Begeisterung für die Berge weckte. Jeden Sonntag zog er mit den Kindern los. „Wir saßen in Bergschuhen in der Kirche. Die Wanderung danach war unser Highlight, mehr als die Messe.“ Über die Jahre entwickelte sich aus kindlicher Begeisterung eine große Leidenschaft. Und mit ihr wuchsen die Ziele. 1998 stand sie 28-jährig erstmals auf einem Achttausender.

Das Geld für diese Expedition hat sie sich eisern ab-, den Jahresurlaub aufgespart. Der Lohn: ein außergewöhnlicher Glücksmoment. In seiner Beschreibung wird Kaltenbrunner philosophisch und romantisch. Es mag an Pfarrer Tischler liegen – auch religiöse Motive schwingen mit: „Ich glaube an die Schöpfung. In der Abgeschiedenheit der Natur erlebe ich sie bewusst.“ Die Dimensionen, in denen der Mensch so klein und unbedeutend wird, die völlige Stille wahrzunehmen, das sei für sie das größte Glück. Den Verzicht auf die Annehmlichkeiten des zivilisierten Lebens empfinde sie nicht als Entbehrung. Im Gegenteil, das karge Leben – wochenlang im Zelt – bringe sie zu sich selbst.

Hübsch und natürlich, in roter Bluse mit aufgestickten Sponsorenlogos steht sie vor 750 Menschen um ihren Vortrag zu präsentieren. Dabei sind seit der Tragödie am K2 erst vier Wochen vergangen. „Ich hätte noch Zeit für mich gebraucht.“ Das Erlebte sitzt tief. „Aber“ da spricht der Profi aus ihr „die Verträge für diese Abende habe ich vor einem Jahr unterschrieben. Da sagt man nicht einfach ab.“ Diszipliniert ist sie, aber alles andere als abgebrüht. Als sie im Vortrag über ihre letzte Expedition zum K2 spricht, bricht ihre Stimme, sie schweigt für ein paar Sekunden und kommentiert das letzte Foto ihres Kollegen leise unter Tränen: „So werde ich Fredrik in Erinnerung behalten. Er war glücklich. Bis zuletzt.“

Die 39-jährige Bergsteigerin ist seit sieben Jahren Profi. Der Anfang war mühsam. Fixkosten senken. Ein Zimmer, kein Auto, keine Versicherung. Dafür gab es: Berge satt. „Mittlerweile finanziere ich mein Leben über meine Vorträge und Partnerschaften mit Sponsoren.“ Ihr gelernter Beruf ist ihr heute eine große Hilfe. Als Krankenschwester begleitete sie auf der Onkologie viele Menschen auf ihrem letzten Weg. Auch in den Bergen ist der Tod ein unsichtbarer Begleiter geworden. 2007 etwa überstand sie einen Lawinenabgang am Dhaulagiri. Nach 30-minütigem Überlebenskampf konnte sie sich aus den Schneemassen befreien, ihre zwei spanischen Kollegen aber nur noch tot bergen. Dennoch: „Hilflos mit ansehen zu müssen, wie Fredrik am K2 in die Tiefe stürzt, ist die schrecklichste Erfahrung, die ich bisher gemacht habe.“

Bei der Verarbeitung solcher Tragödien helfen Gespräche mit ihrem Ehemann, Ralf Dujmovits. Der 48-jährige Profibergsteiger kann nachvollziehen, was in ihr vorgeht. Als erster Deutscher, der alle 14 Achttausender bestiegen hat, kennt er alles: Zuversicht, Rückschlag, Euphorie, Verlust, Gipfelglück und Zweifel. Er kann Trost spenden, aber auch Mut machen. Außerdem, das weiß Kaltenbrunner aus Erfahrung: „Es braucht Zeit. Die schrecklichen Bilder wird man nie los, aber sie verblassen.“ Bei der Trauerfeier für Fredrik empfand sie neben tiefem Schmerz auch große Demut, dass sie selbst noch am Leben ist.

Um sich seinen Segen zu holen sei es ein festes Ritual vor jeder Expedition geworden, Pfarrer Tischler zu besuchen. Ebenso das Kaffeekränzchen mit der Familie. „Bei diesen Abschieden schmieden wir Pläne für die Zeit nach meiner Rückkehr.“ Das helfe ihren Eltern. Trotz der Rückschläge, ans Aufhören denkt sie nicht. Einem Außenstehenden bleibt es wohl schwer vermittelbar, aber wenn sie von den magischen Augenblicken spricht, kommt über ihr Strahlen geballte Lebensfreude rüber. „Die Berge kosten nicht nur Kraft, ich schöpfe auch pure Energie aus ihnen.“ Normalerweise spüre sie nach einer Umkehr deutlich, dass sie es erneut versuchen werde. Als sie sich aber jetzt vom K2 verabschiedete und ihn im letzten Abendlicht hat stehen sehen, ganz so als wäre nie etwas geschehen, da merkte sie, dass es etwas anders war. Ob sie an diesen Berg zurückkommt, weiß sie momentan noch nicht.