Bodenständig, bunt und bärenstark

Per Zufall wird er Kletterer und nutzt als Ersatzmann eine unbewusste Chance. Die Karriere des Südtiroler Bergsteigers Simon Gietl ist ungewöhnlich. Auch als Mensch ist er erfrischend anders. Ein Porträt

Auf der Outdoor Messe sticht er einem mit verwegener Haartracht und in quietschbunten Klamotten am Stand seines Sponsors sofort ins Auge. Seine Backen rot, wie Südtiroler Äpfel. Zur Begrüßung streckt er einem schelmisch grinsend die rechte Hand entgegen. In der linken hält er eine Ringmappe, in der er, fein säuberlich in Klarsichthüllen abgelegt, alle Veröffentlichungen zu seinen jüngsten Klettererfolgen gesammelt hat. Ringmappe statt Powerpointpräsentation! Er wirkt bescheiden und ist einem auf Anhieb sympathisch. Im Internet sucht man vergeblich nach einer Website. Und wer ihm auf Facebook folgt, sollte – möglichst einwandfrei – Pustertaler Dialekt beherrschen. Denn Hochdeutsch spricht und schreibt Simon Gietl nur, wenn die Situation es unbedingt verlangt.

Sechs Monate später beim International Mountain Summit (IMS) in Brixen bestätigt sich der erste Eindruck. Bunt, offen, freundlich. Heidi, eine ältere Dame aus Brixen, welche die IMS Wanderung mit ihm und seinem Schweizer Kletterpartner Roger Schäli auf die Plosehütte gebucht hat, schießt von der leibhaftigen Begegnung mit ihm 200 Fotos. Begeistert ist sie: „Ich habe mich lange mit ihm unterhalten und schaue mir heute Abend natürlich noch seinen Vortrag an. Simon ist einer von uns, er gefällt mir.“ Auf die Nachfrage eines Journalisten, ob einen Extremkletterer eine Wanderung wie diese nicht langweile, meint er: „Ich genieße sie. In meiner Freizeit gehe ich oft zur Entspannung stundenlang spazieren.“ Dabei nehme er die Schönheit der Natur wahr. Wenn er nämlich beim Klettern ist, sei es nicht gerade ratsam das Panorama oder den Anblick einer schönen Pflanze zu genießen. Diesen Augenschmaus konsumiere er daher auf seinen gemäßigten Streifzügen.

Zufälle spielen eine entscheidende Rolle im Leben des 27-jährigen Bergsteigers. Als er eines Tages per Anhalter unterwegs, von Toblach nach Brunneck im Wagen eines Ahrntaler Kletteres landet, welcher begeistert von seinen Abenteuern an den Drei Zinnen erzählt, weckt dies Neugierde in Gietl. Bereits am darauf folgenden Wochenende versuchen sich Simon, Bruder Manuel und ein paar Freunde erstmalig selbst in einer Wand. Gietl, damals 18 Jahre alt, fängt richtig Feuer. Im Klartext heißt das: Am Wochenende Alpinklettern. Unter der Woche Sportklettern. Oft ist er in den Folgejahren gemeinsam mit seinem Bruder in den heimischen Bergen unterwegs und erzeugt rasch Aufmerksamkeit. Vorerst lokal. Zu Hause in Südtirol spricht es sich herum: „Hosch g’heart, der Gietl hat die Mutschlechner Gedächtnisführe vom Schett als erster wiederholt ...“ Mit den Jahren nehmen auch die einschlägigen Bergsportmedien von der rasanten Entwicklung Gietls, der sich mehr und mehr zu einem Allrounder mausert, Notiz. Eis mag er ebenso wie Fels. Nordwände in den Wintermonaten und schwer abzusichernde Routen fordern ihn mental und reizen ihn daher mehr als bloße Schwierigkeitsgrade.

Seine 29-jährige Freundin Sandra sei sein Ruhepol und zeige ihm, dass es im wahren Leben um weit mehr geht, als sich an möglichst kleinen Griffen festzuhalten. Gerade weil sie weder klettert, noch aus der Szene kommt, kann Gietl an Sandras Seite in der gemeinsamen Wohnung im Ahrntal besonders gut abschalten. Zu „leichten“ Bergtouren auf den Ortler oder über den Normalweg auf die Große Zinne bricht er regelmäßig mit ihr auf. Das sei wichtig, damit sie seinen Beruf verstehen könne. Seit seinem 22. Lebensjahr lebt Gietl ausschließlich vom Bergsteigen und führt, wenn er nicht gerade auf Expedition ist, Kunden in die Berge. Während der Ausbildung zum Bergführer hat der gelernte Tischler in einer Bäckerei gejobbt und frühmorgens das Brot ausgefahren. „Feierabend um 7.30 Uhr in der Früh? Davon träumt doch jeder Kletterer?“ lacht er und fährt fort „Während meiner zwei Jahre in der Bäckerei war ich tagsüber viel in den Bergen unterwegs und nicht einen Tag krank. Das Bergsteigen, es tut mir einfach gut.“

Dass Gietl heute eine erfolgreiche Seilschaft mit dem Schweizer Profilpinisten Roger Schäli bildet, ist einmal mehr dem Zufall zu verdanken. Im Januar 2009 ist Schäli an der Nordwand der Großen Zinne mit Christoph Hainz zum Klettern verabredet, welcher kurzfristig absagen muss und Simons Handynummer weiterleitet. Dieser freut sich über den unerwarteten Anruf des Schweizer Profis und sagt natürlich zu. Die beiden verstehen sich nicht nur am Berg, auch im Tal, auf Anhieb. 14 Tage später beantragt Gietl Urlaub um die Südtiroler Bergwelt zu verlassen und mit Schäli am Eiger zu klettern. Im Herbst 2009 landen die beiden am Aguja Poincenot mit der neuen Route „Fühle dich stark, aber nicht unsterblich“ bereits einen dicken Erfolg in Patagonien. Und 2010 kehrt das Duo mit einer bemerkenswerten Erstbegehung aus Grönland zurück.

Der diesjährige IMS präsentiert neben 11 namhaften, internationalen Alpinisten Simon Gietl als den local hero. Markus Gaiser, Mitbegründer des International Mountain Summit, weiß genau warum: „Simon ist nicht nur ein starker Kletterer, sondern auch ein toller Mensch. Sehr authentisch und überaus beliebt. Er hat eine große Bühne verdient. Wir freuen uns auf ihn.“

Gietl, der noch nie vor großem Publikum gesprochen hat, nimmt es eine Stunde vor Beginn seines Vortrages noch locker und scherzt im Kreise seiner Familie, die angereist ist, um ihn zu unterstützen. Also ist er bestens präpariert? Da grinst er von einem Ohr zum anderen: „Wenn ich mich vorbereite, werde ich nervös und bekomme vor lauter Aufregung kein Wort mehr heraus. Also muss ich das spontan meistern. Ich zeige einfach meine Bilder und erzähle etwas dazu. Wird schon klappen. Muss ja.“ Und das tut es. Der Saal ist rappelvoll. Mit einem schlichten „Hoi“ tritt Gietl auf die Bühne. Zum Einstieg wiederholt er eine Frage, die ihm tagsüber gestellt wurde. Was er von seinem Seilpartner Roger Schäli gelernt hätte. Nämlich: „Wie man im Gehen pinkelt ohne dass dabei die Goretex-Hose nass wird.“ Der Saal lacht.

Und Gietl legt nach: "Ich habe aber auch leichtere Sachen von Roger gelernt." Nun kommt Gietl so richtig in Fahrt. Pustertaler Dialekt vom Feinsten. Bilder und Videos, die mitunter zum Kreischen komisch sind. Stand Up Comedy alpin. Wesentlich ernster wird Gietl als er von der letzten gemeinsamen Expedition mit Schäli zum Awra Spire berichtet, bei der ihr Kameramann Daniel Ahnen in einer Gletscherspalte verunglückte. Simon – Tränen in den Augen – gerät ins Stocken. Seilpartner Roger übernimmt und findet die richtigen Worte. Angemessen, ehrlich und berührend. „Freud und Leid am Berg“ nennen die beiden ihren gemeinsamen Vortrag, der das Publikum in Brixen mitreißt. Der Name wird Programm. Bei aller Tragik, nach diesem Vortragshighlight wird gefeiert. Und zwar richtig. Gietl, Schäli, Verwandte, Fans und Freunde des Hauses, ein paar Journalisten und das halbe Orgateam, so hört man, verlassen das Forum Brixen erst als in den frühen Morgenstunden der Putztrupp anrollt . . .