Wenn die Herde zieht

Wenn Powerfrau Ines Papert gemeinsam mit ihrem 11-jährigen Sohn eine Reise unternimmt, wird kein Hotel gebucht. Wozu auch, wenn es Zelte gibt? Gemeinsam mit Emanuel und Lebenspartner Wolfgang Kurz war die 37- jährige Profibergsteigern im Sommer zwei Wochen in Kirgistan unterwegs. Franz Walter brachte wunderschöne Bilder von diesem ungewöhnlichen Familienurlaub mit.

Nichts geht mehr. Igor flucht laut. Die Reifen seines Trucks sind endgültig im Morast versunken. Mit jedem weiteren Versuch das Fahrzeug aus dem vom Regen durchweichten Boden zu fahren, bohrt es sich tiefer in den Schlamm. Anfangs machen alle noch Scherze. Doch nach ein paar Stunden wird klar: Aussichtslos! Diese Fahrt endet hier. Nur Emanuel jubelt: „Mama, Mama, wir stecken fest! Gut, dass wir unser Zelt und Essen dabei haben. Abenteuer, Mama, Abenteuer!“

Als Ines Papert 2010 durch Kirgistan reiste, um eine Erstbegehung am Mount Kyzyl Asker (5.842 m) zu versuchen, war sie fasziniert von der Unberührtheit und Weite Kirgistans. Vom einfachen Leben der Nomaden in ihren Jurten, den riesigen Pferdeherden in der Steppe und von den entzückend süßen kirgisischen Kindern, die glücklich strahlen, obwohl ihr Leben mitunter hart und karg ist. „Diese Kinder weckten in mir die Idee, dieses Land eines Tages mit meinem Sohn zu bereisen. Ich wollte Manu einerseits die Schönheit des Landes präsentieren, ihm zugleich aber zeigen, wie gut er es in Deutschland hat.“ Außerdem sei er mit seinen 11 Jahren alt genug um ihm einen kurzen Einblick in ihr Leben als Profibergsteigerin zu gewähren. Nachdem die Expedition zum Mount Kyzyl Asker im August 2010 nur ein paar hundert Meter unter dem Gipfel scheiterte, war für Ines klar, dass sie im Jahr 2011 einen weiteren Versuch an diesem Berg wagen würde. Dieses Mal kamen – zumindest bis ins Basislager – Sohn Emanuel, Lebenspartner Wolfgang Kurz und der Fotograf Franz Walter mit.

Will man mit Paperts über diese besondere Reise sprechen, findet dieser Termin natürlich nicht indoor, sondern draußen statt. Bei Ines zu Hause in Bayerisch Gmain. Bergschuhe und Rucksack möge man mitbringen – das Interview könne schließlich wunderbar mit einer Berggtour auf ihren Hausberg, den Staufen, verbunden werden.

Im schmucken Häuschen Marke Eigenbau riecht es um 8 Uhr morgens angenehm nach Kaffee. Ines schiebt noch schnell einen Karottenkuchen in den Ofen. Manu kommt gerade auf seinem Mountainbike angeradelt. Dabei düst er derart flott um die Kurve, dass er auf der von Raureif überzogenen Holzterrasse erst ins Schlingern und schließlich ganz zu Sturz kommt. Emanuel ist ein freundlicher, sportlicher und aufgeweckter Bub. Er spricht wie im der Schnabel gewachsen ist, hat keinerlei Berührungsängste und legt im Laufe der gemeinsamen Wanderung jede Scheu ab. Er erzählt, beantwortet Fragen und erlaubt später sogar einen kurzen Einblick in sein Reisetagebuch voller Notizen und Zeichnungen aus Kirgistan.

Aufregend war die Reise ab Tag eins. Richtig vorbereiten kann man sich nämlich kaum, denn es gibt (noch) keinen brauchbaren deutschsprachigen Reiseführer über Kirgistan. Von den sprachlichen Problemen vor Ort dann ganz zu schweigen. Das Land, welches im Jahr 1991 die Unabhängigkeit von Russland erreichte, ist daher kaum auf eigene Faust zu bereisen. Außer man hat sehr viel Zeit. Mietwägen gibt es keine, ein kleines Busliniennetz zwar, aber in die wirklich interessanten Regionen dringt man damit nicht vor. Wobei: Jedes Auto in Kirgistan auch theoretisch ein öffentliches Verkehrsmittel ist.

Für ein paar Som kann man jederzeit per Anhalter mitfahren. Das erfordere allerdings Geduld. Zu dritt plus Kind mit viel Gepäck kam dies aber nicht in Frage. Daher begleitete Freundin Sasha, eine studierte Touristikerin, die fließend Deutsch spricht, diese Reise. In Bishkek, der Hauptstadt Kirgistans aufgewachsen, kennt die 30-jährige gebürtige Russin nicht nur jeden Winkel ihrer Heimat, sondern hat auch gleich einen Jeep samt Fahrer aufgetan und Muttern als Reiseköchin engagiert. Apropos Essen. Emanuel verdreht die Augen. Es war offensichtlich gar nicht sein Geschmack. Auch für Ines war das viele Fleisch gewöhnungsbedürftig. Gerne hätte sie einmal selbst gekocht oder zumindest dabei geholfen, aber die Gastfreundschaft verbiete das. Traditionsgemäß darf an den Gasherd nur die Köchin, an’s Lenkrad nur der Fahrer, niemals jedoch der Kunde oder Gast.

Ab Bishkek ging es nach Balyktschy an den Issy Kul See. Abenteuerstimmung kam hier noch nicht wirklich auf, denn am Südufer des weltweit zweitgrößten Hochgebirgssees „floriert“ der Tourismus im Vergleich zum Rest des Landes. Auch in Karakol am Westufer sei noch relativ viel los. Früher urlaubten hier vornehmlich hochrangige russische Politiker. Heute genießen hier hauptsächlich Trekkingtouristen und Individualreisende den gigantischen Blick auf die hohen Berge des Thian Shan Massivs.
Richtig toll wurde es als die Straßen schlechter wurden. Als es keine Privatunterkünfte mehr gab.

Wobei: Mit kirgisischen Familien unter einem Dach zu schlafen, an deren Tisch zu essen, war wunderschön. Vor allem die Kinder nahmen untereinander sofort Kontakt auf. Ein simpler Fußball, den Manu zusammen mit seinem alten Einrad eigens aus Deutschland mitbrachte, hat die Kids verbunden. Spielend und ohne große Worte wurden kulturelle und sprachliche Grenzen überwunden.
Bereits am Nordufer des Issy Kul Sees gab es keinen Tourismus mehr. Im Ochsental schließlich waren sie ganz alleine, völlig abgeschieden und begeistert. Kirgistan ist weit und still, rau und manchmal wild. Idyllisch ist es selten, lieblich ist die Landschaft nie. Geschlafen haben sie im mitgebrachten Zelt oder bei den Nomaden in den Jurten. Unvergessen schön die sternenklaren, kalten Nächte.

Am Song Kul See schließlich auf 3.500 Metern schneite und stürmte es sogar mitten im August. Spuren eines Schneeleoparden haben sie einmal gesehen, Horden von Marco Polo Schafen und immer wieder hunderte von Pferden. Apropos: Geritten sind sie alle. Auch Manu. Als dieser jedoch als Anfänger eines Tages mit viel zu langen Steigbügeln durch die Steppe galoppierte, staunten die Erwachsenen nicht schlecht. Lange Wanderungen wurden unternommen. Und geflogen sind sie auch. Denn Ines und Wolfi hatten sogar ihre Gleitschirme aus Deutschland mitgebracht. Wer die Bilder sieht, spürt die Freiheit und das Glück.

In Naryn schließlich, einer alten Garnisonsstadt, wurden auf dem Markt noch einmal Lebensmittel für die bevorstehende Expedition eingekauft. Hier stießen auch Ines’ Kletterkollegen Wolfgang Russegger und Charly Fritzer zur Gruppe, denn langsam aber sicher ging es per Truck in Richtung Basislager. Allerdings hatte Manuel noch einen „Auftrag“ zu erfüllen. Sein Einrad, so die fixe Idee, wollte er im Laufe der Reise an ein Kind verschenken. Nur an welches? Alle waren süß. Just an diesem Tag war Schulanfang. Die Kinder in Naryn waren fein herausgeputzt, wie an einem Feiertag. Sasha organisierte kurzerhand einen Termin in einer Schule. Was für eine Aufregung! Schulanfang und hoher Besuch aus Deutschland. Bergsteiger gar? Großes Staunen. Als Emanuel einer Klasse dann sein Einrad und ein paar Dutzend Trinkflaschen als Geschenke übergab, waren alle Kinder restlos aus dem Häuschen.

Die Fahrt ins Basislager endete im Schlamm. Irgendwo im Niemandsland, etliche Kilometer vor dem eigentlichen Ziel. Ines und Kollegen, inklusive Wolfi und Franz schleppten das gesamte Expeditionsequipment also zu Fuß ins Basecamp. Als keiner mehr daran glaubte, gelang es Fahrer Igor tatsächlich noch den Truck „Ural“ aus dem tiefen Morast zu fahren. Wie er das nach drei Tagen Sisyphosarbeit mit einer Eisenstange, zwei Holzbrettern und einem kleinen Wagenheber anstellte, bleibt ein Rätsel. Auch Manu schaffte es in Begleitung von Wolfi und Franz noch rechtzeitig nach Hause. Denn auch in Deutschland stand ja der Schulbeginn vor der Tür.

Der Abschiedsschmerz fiel Ines dieses Mal besonders schwer: „Anders als sonst, ließ dieses Mal Manu mich allein zurück. Im Basislager heulte ich wie ein Schlosshund.“ Bitter nicht nur die Tränen. Auch die Tatsache, dass ihre beiden Kletterkollegen Wolfgang Russegger und Charly Fritzer gleich nach ihrer Ankunft in Naryn richtig krank wurden und sich während der gesamten Expedition nicht mehr davon erholten, was den Versuch einer Erstbegehung am Mount Kyzyl Asker erneut scheitern ließ. Mit „Ein Quantum Trost“ aber, dem ersten kompletten Durchstieg der 5.100 Meter hohen „Great Walls of China“ kam Ines dennoch mit einem Erfolg nach Hause, wo Manu bei ihrem Eintreffen gerade dabei war seine Powder-Latten für die nächste Saison zu schleifen.