Gefangen in der Weite - 43 Tage Isolation auf Baffin Island
Ein Interview von Johanna Stöckl
Im Sommer 2012 warst du mit den Pou Brüdern in Baffin Island. War das eure erste gemeinsame Expedition?
Als Teamkollegen bei The North Face haben wir uns natürlich schon gekannt und waren auch schon gemeinsam beim Sportklettern in Spanien. Aber auf Expedition waren wir das erste Mal.
Wer war noch dabei?
Neben Eneko und Iker Pou, waren mein Freund Ben Lepesant, die beiden Italiener Riky Felderer und Matteo Mocellin als Fotografen und William Peterson dabei. William war die gute Seele im Basecamp. Er war für die Küche zuständig und unser bester Schütze. Nicht unwichtig in einer Region, in der es Eisbären hat.
Und? Eisbären begegnet?
Leider nicht. Oder Gott sei Dank.
Also musste der beste Schütze nur kochen? Wie gut kann er das?
(Lacht) Sagen wir einmal so: Dafür, dass er es nicht gelernt hat, war es schon ok. Zum Ende der Expedition hin wurde das Essen knapp. Wir mussten streng rationieren, für den Fall, dass wir noch länger bleiben müssen. Wann der Fjord auftaut kann man nie genau planen. Aber verhungert sind wir nicht.
Wie ist dieses Projekt entstanden?
Nach Baffin Island zum Klettern zu gehen war schon lange mein Wunsch. Aber ich hatte bisher nicht die Möglichkeit dazu, schließlich ist so eine Expedition aufwändig zu organisieren und kostenintensiv. Aber als Vision war Baffin immer in meinem Kopf. Irgendwann haben Ben und ich begonnen uns ein wenig schlau zu machen. Dann haben wir ein Foto einer bestimmten Wand gesehen, wurden neugierig und haben ernsthaft begonnen zu recherchieren.
Welches Foto war das?
Der Amerikaner Jason Briner war als Wissenschaftler in unterschiedlichsten Regionen Baffins unterwegs und hat dort viel fotografiert. Eines seiner Bilder aus dem Perfection Valley, das wir im Internet gesehen haben, hat es uns besonders angetan. So ist der Plan entstanden. Kurios: Vor Ort stellten wir fest, dass es bessere Wände als diese eine gab und haben unsere Pläne kurzfristig geändert.
Wie seid ihr ins Basislager gekommen?
Wir sind über Ottawa und Iqaluit nach Clyde River geflogen. Dort hat uns Levi, ein Inuit, vom Flughafen – oder besser – von der Landebahn abgeholt. Clyde River ist ein eher trostloser Ort, bestehend aus ein paar Häusern und einem Lebensmittelgeschäft. Wir waren uns sicher, dass die Inuit vor Ort genau wissen, wie man ins Perfection Valley kommt. Aber die hatten nicht den geringsten Plan davon! Daher sind wir auf einer Erkundungstour so lange über den Hauptfjord gefahren, bis mir ein paar Ecken von den Bildern her bekannt vorkamen. Überrascht hat uns der viele Schnee. Auf derart winterliche Bedingungen waren wir nicht wirklich vorbereitet. Mit den Schneemobilen kamen wir im weichen Schnee nicht so weit wie geplant. Also gingen wir den Rest zu Fuß.
Welchen Gefahren musstet ihr euch stellen?
Das Eis sah insgesamt ziemlich stabil aus. Große Risse zogen sich zwar durch den Fjord, aber am Rand kam man mit den Schneemobilen gut durch. Richtig bedrohlich war das Durchqueren der Bäche. Im Sommer werden darin gigantische Wassermengen transportiert. Dann eben die latent lauernde Gefahr der Eisbären. Die Inuit sind nie ohne Waffe unterwegs und sehen im Eisbären kein nettes Tierchen à la Knut, sondern eine echte Gefahr. In der Wand selbst gab es phasenweise bedrohlichen Steinschlag.
Wie lange ward ihr in der Wildnis?
Insgesamt waren wir 57 Tage unterwegs. Davon 43 Tage im Basecamp. Das ist eine verdammt lange Zeit. Bei jeder anderen Expedition kannst du – rein theoretisch –jederzeit zurück in die Zivilisation. Diese Option hast du in Baffin nicht. Wenn das Eis, über das du rein kommst, während der Sommermonate schmilzt, die Flüsse anschwellen, wird die „Mauer“, die dich von der Zivilisation trennt, immer höher . Im Grunde genommen konnten wir vom Basecamp aus nur eine Richtung einschlagen: Bergauf! Ist das Wetter lange schlecht, was bei uns der Fall war, wird das mental schon sehr anspruchsvoll. Sieben Männer an einem Ort ohne Ausweg. Das ist schon zäh.
Gefangen in endloser Weite?
Kann man so sagen. Die Isoliertheit darf man nicht unterschätzen. Jetzt erst kann ich ermessen, welche enorme Leistung es ist, die großen Eiswüsten zu durchqueren. Das muss der absolute Wahnsinn sein.
43 Tage in der Isolation. Was macht man da, wenn man nicht klettert?
Jeder hatte so seinen Rhythmus. Am Ende, als wir kein Essen, also auch kein Frühstück mehr hatten, sind wir möglichst spät aufgestanden. Du kannst nicht immer lesen. So viele Bücher kannst du gar nicht mitnehmen. Man darf nicht ständig nach einer Tätigkeit oder Beschäftigung suchen, sonst wirst du narrisch. Es gibt bei Schlechtwetter einfach nichts zu tun. Das gilt es zu akzeptieren. Mehr noch, du musst das Nichtstun sogar als Tätigkeit sehen.
Das muss doch zwangsläufig zu Spannungen führen.
Klar kommt es zu Spannungen, aber Streit hatten wir keinen. Diskussionen gab es schon, aber die waren wichtig und wertvoll.
Hattet ihr Kontakt zur Außenwelt?
Ja, wir hatten ein Satellitentelefon dabei. Bei Schlechtwetter wurde es etwas öfter in Anspruch genommen. Ich selbst habe mich zweimal bei meiner Familie gemeldet und zwei meiner Freunde angerufen. Vieles von dem, was die dir dann mitteilen, macht für dich dort überhaupt keinen Sinn. Etwa, wenn man dir irgendwelche banalen Facebook-Geschichten erzählt. Davon bist du so weit weg. Deine Realität ist eine ganz andere: Essen, schlafen und auf besseres Wetter warten. Diese Erfahrung war zum Teil heftig, aber auch essentiell und rar.
Haben die Spanier mitbekommen, dass sie Fußball-Europameister ist?
(Lacht) Ja klar. Vor allem Ben Lepesant war fußballmäßig sehr motiviert. Da gab es diesbezüglich schon das eine oder andere Telefonat.
Hattet ihr Alkohol dabei?
Je eine Flasche Rum, Baileys, Wodka und Whisky. Diese haben wir hauptsächlich William überlassen. Für ihn war’s besonders wild. Im Gegensatz zu ihm hatten wir ja immer wieder die Aktivität beim Klettern. Aber er war die ganze Zeit gefangen im Basislager. Null Abwechslung. Da kann Alkohol ein wenig helfen.
Du sagtest, es war dein Traum in Baffin zu klettern. Haben sich deine Erwartungen bewahrheitet oder wurden sie übertroffen?
Sie wurden übertroffen. Es gibt in Baffin Island einfach derart spektakuläre Wände in einer Vielzahl, das kann man sich nicht vorstellen. Wenn jemand eine Wand sucht, an der noch keiner war, dann muss er nach Baffin.
Zurück in der Zivilisation. Was macht man als erstes?
Wenn du das Boot kommen siehst, das dich abholt, bist du überglücklich. Die erste Frage, die man uns gestellt hat, war: „How was your life with mother earth?“ Wieder in Clyde River angekommen, wurden wir, vor allem von den Kindern, sehr herzlich begrüßt. Und dann sind wir direkten Weges im Lebensmittelladen eingefallen. Bereits im Basislager hatte jeder von uns eine Art Hitliste erstellt mit seinen persönlichen Top 3.
Was stand bei dir ganz oben auf der Liste?
Milch, Bananen und Kinder Bueno.
Zu den Temperaturen. Wie kamst du beim Klettern mit der Kälte klar?
Es war anfangs zwar relativ kalt, so an die minus zehn Grad, aber solange die Sonne scheint und es in der Wand windstill ist, funktionierte das Klettern gut. Klar, es gab einige Tage, da konnten wir wegen des Windes trotz Sonnenschein einfach nix in der Wand machen. Ab Mitte der Expedition wurden die Temperaturen angenehmer, konnten wir auch mal auf die Daunenjacken verzichten. Und am Ende hatten wir sogar ein paar Tage nur T-Shirts an. Außerdem gewöhnt sich der Körper recht rasch an die Kälte.
Ihr habt vier Routen im Perfection Valley eröffnet. Welche Geschichten stecken hinter den Routennamen?
Die erste und schwierigste Route tauften wir „The Door“. An der Schlüsselstelle musste man einen recht schwierigen Boulder klettern, bei dem man viel Körperschwung abfangen musste. Im Kletterjargon spricht man in diesem Fall von einer „offenen Tür“. „Hotel Gina“ und „Hotel Monica“ gehen auf eine Dolce & Gabbana Anzeige in der National Geographic zurück. Zwei Ausgaben des Magazins hatten wir dabei. Die Models der Kampagne haben wir in unserem Mannschaftszelt aufgehängt und ihnen die Namen Gina und Monica verpasst. Eine Route tauften wir „Levi is coming“, weil wir am Gipfel stehend sehen konnten, dass der Fjord langsam aber sicher auftaut, somit schiffbar wird und die Hoffnung stieg, dass uns Levi mit seinem Boot bald abholen kann. Drei Tage nachdem wir auf dem Gipfel standen, war es dann soweit.
Konntet ihr alle vier Routen frei klettern?
Ja, alle vier frei geklettert. „The Door“ ist die vermutlich schwierigste Freikletterroute auf Baffin Island.
Handelt es sich dabei eigentlich auch um Erstbesteigungen?
Ja, da war vor uns definitiv noch keiner oben.
Ein erhebendes Gefühl?
Die meisten Gipfel in Baffin sind unbesteigen. Es gibt einfach so viele davon. Insofern relativiert sich das dann schon.
Hattest du als Expeditionsleiter bei Entscheidungen das letzte Wort?
Grundsätzlich verfolgten wir keinen autoritären Stil und haben uns natürlich im Team besprochen. Aber bei großen Entscheidungen ist es hilfreich und durchaus konstruktiv, wenn einer das finale Wort hat. Sonst wird ewig diskutiert. Das fiel mir gar nicht so leicht, denn grundsätzlich willst du ja, dass es allen gut geht, alle zufrieden sind. Das Projekt an sich hat uns aber stark verbunden. Wir konnten an einem Strang ziehen. Außerdem war uns allen klar, dass ein Streit innerhalb des Teams das Ende unserer Expedition bedeuten würde. Daher sind wir sehr vernünftig und vorsichtig miteinander umgegangen.
Habt ihr die Folgen der Klimaerwärmung gespürt?
Oh ja. Die Gletscher gehen auch auf Baffin brutal zurück. Während unserer letzten Tage war es ungewöhnlich warm. So warm, dass die Inuit gar nicht mehr aus dem Haus gingen. Plus zehn Grad ist für deren Verhältnisse regelrecht heiß. Während dieser Zeit gingen ja auch die Meldungen der großen Gletscherschmelze in Grönland durch die Medien.
Worauf hast du dich nach 57 Tagen in der Isolation am meisten gefreut?
Auf meine Familie, auf Freunde und abwechslungsreiche Gespräche. Der Entzug von Menschen war eindeutig das Schwierigste auf dieser Expedition. Wobei einen die Menschen anfangs auch überfordern. In Iqaluit am Flughafen angekommen, landete gerade eine Maschine aus Ottawa. Als die Passagiere in die Halle strömten, mussten wir diese auf der Stelle verlassen. Zu laut, zu voll, zu hektisch.
Wie lange dauert dieser Zustand an?
Spätestens nach zwei Tagen bist du selbst wieder Teil des Trubels und fühlst dich durchaus wohl darin.
Hansjörg Auer kompakt
Geboren: 18.02.1984 in Zams
Sponsoren: The North Face, Edelrid, La Sportiva, Ötztal, Smith Optics, bergshop.com, Peeroton
Profi seit 2009
Facts
Name: The Door
Location: Belly Tower Ostwand/Perfection Valley/Baffin Island
Länge: 16 Seillängen + 200m leichtes Gelände
Höhe der Wand: ca. 650m
Länge der Route: ca. 630m Klettern + 200m leichtes Gelände
Vorgeschl. Bewertung: 8b
Left gear: 27 Bohrhaken, 5 Haken, 3 Beaks
Erstbegehung: 1. Juli
Erste Freibegehung: 7. Juli durch Iker Pou und Hansjörg Auer
Erstbegehung durch: Eneko Pou, Iker Pou, Ben Lepesant, Hansjörg Auer
Name: Hotel Gina
Location: White Wall Ostwand/Perfection Valley/Baffin Island
Länge: 6 Seillängen + 250m leichtes Gelände
Höhe der Wand: ca. 450m
Länge der Route: ca. 320m Klettern + ca. 250m leichtes Gelände
Vorgeschl. Bewertung: 6b+
Erstbegehung: 13. Juli
Erstbegehung durch: Matteo Mocellin, Ben Lepesant, Hansjörg Auer
Hotel Monica
Location: White Wall Ostwand/Perfection Valley/Baffin Island
Länge: 6 Seillängen + 250m leichtes Gelände
Höhe der Wand: ca. 450m
Länge der Route: ca. 320m of Klettern + ca. 250m leichtes Gelände
Vorgeschl. Bewertung: 6b+
Erstbegehung: 13. Juli
Erstbegehung durch: Riky Felderer, Eneko Pou, Iker Pou
Name: Levi is coming
Location: Mount Cook Nordost-Pfeiler/Perfection Valley/Baffin Island
Länge: 11 Seillängen
Höhe der Wand: ca. 360m
Länge der Route: ca. 420m
Vorgeschl. Bewertung: 6b
Erstbegehung: 17. Juli
Erstbegehung durch: Eneko Pou, Iker Pou, Hansjörg Auer