Behind the snow
B eobachtungen, Eindrücke und Emotionen vom IMS
Bekannte Gesichter im Forum Brixen. Wer – wie ich – zum dritten Mal dabei ist, kennt hier viele. Alpines Klassentreffen quasi: Stammgäste, Bergführer, Experten, Fotografen, Sponsoren, Journalisten, Buchautoren und natürlich die beiden Hausherren, Markus Gaiser und Alex Ploner. Etwas überarbeitet, nervös und angespannt wirken sie. Auch Vorfreude und Stolz schwingen mit. Darüber, dass ihr IMS in eine dritte Runde geht, sich offensichtlich etabliert und als Marke wahrgenommen wird. Kurz bevor Alex Ploner zur Eröffnungsrede die Bühne betritt, umarmt er seinen Kompagnon Markus Gaiser herzlich. Es fließen ein paar Tränen.
Als ich am Samstag in aller Herrgottsfrüh ins Forum Brixen laufe, üben die Slackliner schon eifrig auf dem Domplatz. Am Nachmittag wird hier im Rahmen des IMS die zweite Weltmeisterschaft der Seilakrobaten ausgetragen. Großes Kino bereits beim Training. Groß auch die Verwunderung einiger Kirchgänger. Kopfschütteln bei einigen älteren Damen: „Wozu unser altehrwürdiger Domplatz neuerdings herhalten muss.“ Eine Schande sei das und fort sind sie. Um 16 Uhr jedenfalls ist der Domplatz rappelvoll. Musik tönt aus den Boxen. Partystimmung statt Priesterseminar. Alle lieben Andy Lewis, den Slacklinesuperstar aus den USA. Ich bin mit ihm zu einem Interview verabredet. Heute. Aber wo? Seine letzte Message via Facebook zu unserem Treffen: „You will find me. Just look after my hair ☺ Andy!“ Ein echter Showman, very charming und tatsächlich nicht zu übersehen.
Erstes Vortragshighlight: Klettersuperstar Chris Sharma. Hütte voll, was zu erwarten war. Allerdings kenne ich Großteile der tollen Präsentation des etwas scheuen Amerikaners bereits aus dem Internet. Seine Klettervideos sind jederzeit auf youtube abrufbar. Insofern erfahre ich im Vortrag wenig Überraschendes. Gleich im Anschluss feiert Stefan Glowacz mit seinem neuen Vortrag eine Premiere. Sharma sitzt im Publikum, sehr entspannt, ein Bierchen in der Hand. Später unterhalten sich die beiden ewig, in einer ruhigen Ecke stehend. Sie beschließen hier, erfahre ich, eine gemeinsame Expedition.
Sonntagabend. Ladies-Day. Ines Papert präsentiert erstmalig ihren neuen Vortrag „In Fels und Eis“. Nervös sei sie vor dieser Premiere. Kurios und menschlich, dass eine so starke Frau, die in der Vertikalen keine Ängste kennt, im Alltag Zweifel hat. Gleich danach folgt Josune Bereziartu, die baskische Über-Kletterin, die als erste Frau eine 9a Route geklettert ist. Obwohl sie schlecht Englisch spricht, ist ihr Vortrag sehr erfrischend. Als sie allerdings Kletterbilder von sich zeigt, sehnig, bis auf die Knochen abgemagert, kann ich kaum noch hinschauen. Ich will diese Bilder partout nicht sehen. Josune zeigt sie trotzdem. Mutig und ehrlich. Offenbart sie hier den Preis für ihre tollen Leistungen? Auf der Wanderung mit ihr bestellt sie als einzige kein Mittagessen. Als ich später die Boulder-Weltcupsieger Anna Stöhr und Kilian Fischhuber treffe und sie je ein dickes Vintschgerl mit Speck und ein Stück Kuchen ordern, erzeugt diese alltägliche Bestellung Erleichterung in mir.
Ich nehme an der Wanderung mit Profikletterer Stefan Glowacz über die Radlseehütte zum Königsanger teil. Heißt: nach einer kurzen Nacht um 8 Uhr morgens im Forum Brixen anzutanzen. Ein traumhafter Tag mit sympathischen Mitwanderern, den besten Knödeln, die ich je gegessen habe und einem sehr privaten Stefan Glowacz. Beim Abstieg plaudern wir über seinen Abenteuerurlaub mit den Kindern in Kanada und die sportlichen Ambitionen seiner bald 16-jährigen Drillinge. Tim und Ben seien begeisterte Trickskifahrer, Marke New School und hätten es bereits in die Jugendnationalmannschaft geschafft. Und Tochter Nadine ist Synchronschwimmerin mit Leib und Seele. Außerdem lerne ich Dr. Manfred Redelfs kennen. Der sympathische Hamburger ist Wiederholungstäter, zum dritten Mal in Brixen. Er arbeitet für Greenpeace in der Rechercheabteilung und nutzt alljährlich den IMS um Ende Oktober eine Woche lang zu wandern, sich sämtliche Vorträge anzuhören und genießt das lockere Miteinander bei diesem Festival: „Ich genieße nicht nur die Gespräche mit den Stars, sondern lerne unter den Teilnehmern auch immer wieder sehr interessante und angenehme Menschen kennen. Unter Bergsteigern gibt es nämlich kaum penetrante Nervensägen.“
Die Tour mit Dean Potter und Beat Kammerlander über die Gattererhütte zum Wildensee ist mein persönliches Wanderhighlight beim IMS. Landschaftsmäßig nicht zu toppen. Knödel erneut 1 A. Potter kommt in Sneakers. Ab 2000 steigen wir knietief durch den Schnee. Kammerlander lustig, offen, herzlich. Und Potter? Vermittelt einem das Gefühl, als sei man mit seinem besten Kumpel in den Bergen. Kann ich mich überhaupt mit einem Free Solo Kletterer, Basejumper, dem selbst ernannten „Aeralisten“ unterhalten? Und wenn, worüber? Uns trennen Welten. Meine ich. Wir quatschen lange über Whisper, seinen Hund, die meditative Wirkung von Spaziergängen, über seine Scheidung von Steph Davis, die, so sagt er, richtig teuer war, die Wirtschaftskrise, seine neue Wohngemeinschaft mit fünf Kumpels und über ein paar Enziane, die hier mitten im Schnee noch blühen. Abends bei seinem Vortrag staune ich wie alle anderen im vollen Saal. Wie kann er das Leben nur so provozieren? Sich in waghalsigen Basejumps und Free-Solos am Berg wie auf der Highline dem Tod gefährlich nähern und dabei zugleich so große Lebenslust empfinden?
Der Schweizer Roger Schäli und sein Südtiroler Kletterpartner Simon Gietl präsentieren sich als Seilschaft auf der Bühne. Simon Gietl steht zum ersten Mal vor großem Publikum. Pustertaler Dialekt. Videosequenzen zum Kreischen komisch. Alpine Stand Up Comedy vom Allerfeinsten. Ein Journalist fragt ihn vor dem Vortrag, was er von seinem Seilpartner Roger Schäli gelernt hätte. Seine Antwort: „Wie man im Gehen pinkelt ohne dass dabei die Goretex-Hose nass wird.“ Wesentlich ernster werden Schäli und Gietl als sie von ihrer Expedition zum Awra Spire im Himalaja berichten, bei der ihr Kameramann Daniel Ahnen in einer Gletscherspalte tödlich verunglückte. Simon kommen die Tränen, Roger übernimmt und findet die richtigen Worte. Angemessen, ehrlich, sehr berührend. Trotz aller Tragik, nach dem Vortrag wird gefeiert. Und zwar richtig. Die letzten Gäste verlassen das Forum Brixen erst als bereits die Putzkolonne anrollt.
Die Publikumsmagneten Huberbuam sind natürlich auch in Brixen. An unterschiedlichen Tagen. Alexander kommt samt Familie und bringt neben Freundin Nina auch Töchterchen Anna mit. Fein rausgeputzt, in rosa Adidas-Klamotten, ist Klein-Anna der Star auf der Wanderung mit Alexander Huber und Adam Ondra. Thomas bringt den Papa mit, der während der Vortragstournee gelegentlich den Chauffeur für seine Söhne spielt. Nach dem Vortrag sitzt Huber Thomas Senior bei uns am Tisch. Im Anschluss an Brixen wird er ein paar Tage nach Arco fahren. Aber nicht zum Wandern oder Cappuccino trinken. Denn, so sagt er trocken: „Zum Wandern bin ich noch viel zu jung.“ Also Klettersteig-Kraxeln? „So alt kann ich gar nicht werden. Ich fahre nach Arco um richtig zu klettern.“ Apropos: Vater Ondra ist auch in Brixen. Miroslav begleitet seinen Sohn Adam, den tschechischen Wunderkletterer, häufig auf solchen Reisen. In einem Gespräch mit ihm stellt er eine interessante Theorie auf. „Meine Frau und ich, inklusive aller Freunde, waren früher praktisch nur beim Klettern. Ich denke, dass Adam als Kleinkind meinte, wir Menschen bewegen uns ausschließlich kletternd fort.“
Die Medienvertreter reißen sich hier um ihn. Lang und dünn wie eine Bohnenstange, kerzengerade, in einer viel zu großen Hose steht er da, der 18-jährige Adam Ondra. Süß ist er und wirklich freundlich. Sein Englisch ist sehr gut und seine Geduld mit den vielen Journalisten grenzenlos. Nach seiner Wanderung mit Alexander Huber und zahlreichen Fans bereitet er sich auf seinen großen Vortrag vor, prüft die Technik, geht mit Papa noch einmal alles durch. Ein paar Stunden später wird er den Bouldercup in der Handballhalle Brixen gewinnen. Tags zuvor saß er bei der mit Spannung erwarteten, doch für mich eher enttäuschenden, großen Diskussion zum Thema „Showalpinismus – Wie viel Leistung steht hinter der Berg-Show“ auf der Bühne. Unter anderem neben Stefan Glowacz, Reinhold Messner und David Lama. Da er noch Schüler ist und wenige Sponsoren hat, spüre er keinerlei Druck, so sagt er: „Meine Sponsoren beeinflussen mich gar nicht. Sie sagen nur, dass ich eifrig zum Klettern gehen soll. Ich mache das, was mir Spaß macht.“
Obwohl der Slowene Marko Prezelj ein großer Alpinist ist, weiß ich wenig von ihm. Hängen blieb, dass er als Gewinner des Piolet d’ Or diesen Preis einst heftig kritisiert hat, weil es dabei nur um Ruhm ginge, man die alpinen Leistungen weder beurteilen noch vergleichen könne. Prezelj, der sein Geld als Fotograf verdient, vermarktet sich nicht. Und das hat Folgen. Kleines Publikum. Abgedunkelter Saal, ein paar Stuhlreihen sind im Halbkreis vor der Bühne aufgebaut. Toller Vortrag, sehr authentisch, gänzlich ohne Pathos, sehr intime Stimmung. Viele Fragen aus dem Publikum. Wohlüberlegte Antworten, sehr geschliffen. Weniger ist ganz offensichtlich mehr. Letztendlich deckt sich das mit Prezeljs Botschaft. Ich bin begeistert. Während seiner Präsentation zeigt Prezelj ein Bild vom Makalu. So groß und mächtig, dass er einen Schritt nach hinten macht, um den Berg in seiner ganzen Größe zu erfassen. Dabei tritt er ins Leere und purzelt rücklings von der Bühne. Sekunden später steht er wieder da. Als ich ihn am nächsten Morgen treffe, humpelt er bereits ein wenig. Noch machen wir Späße über die Macht des Makalu, der ihn von der Bühne warf. Tage später allerdings schreibt er in einer Email: „I reinjured my right knee. I can’t walk up the stairs right now. Trying to be a star takes it's tax.“ Dieser letzte Satz wirkt lange bei mir nach und bringt mir mehr als die gesamte Showalpinismus-Diskussion. Prezelj hat es damit auf den Punkt gebracht.
Nach 9 Tagen in Brixen schlafe ich auf der Zugfahrt. Ich bin total gerädert, habe insgesamt 12 Vorträge und drei Diskussionen besucht, Interviews geführt, an drei Tageswanderungen teilgenommen, war bei der Slackline-WM und beim Bouldercup, kam keinen Tag vor 2 Uhr ins Bett. Das war intensiv. Eine Alpenüberquerung ist nichts dagegen! Spannend und schön war’s trotzdem. Ich freue mich auf die nächste Überdosis Berg, den IMS 2012!
IMS 2011 in Zahlen
12.000 Besucher insgesamt. Davon 2.700 bei der Slackline WM, 2.900 beim Boulderfestival. 6.300 Vortragsbesucher im Forum Brixen. Dort wurden beim „Abklettern“ nach den Vorträgen u. a. 420 Liter Bier, 290 Flaschen Wein getrunken, 90 Kilogramm Speck und 40 Kilogramm Käse vernichtet ☺. 118 akkreditierte Journalisten aus 9 Ländern.