Donnerwetter, ein Nordlicht auf meinem Hausberg
Zugegeben, die Situation ist mehr als komisch und wird zum Running Gag auf dieser Tour. Ich will ihm in einem etwa 300 Meter entfernten Schotterfeld unterhalb des Bischofs ein Rudel Gamswild zeigen, aber er will die schwarzen Punkte ums Verrecken nicht erkennen, fragt schließlich trocken: „Was bitteschön ist das?“ und deutet dabei auf ein Prachtexemplar derselben Gattung. Keine 10 Meter von uns entfernt äugt es auf dem Wanderweg stehend neugierig zu uns herüber.
Mein Freund Holger lebt auf Sylt. Vor 15 Jahren war er einmal beim Wandern, aber auf einem richtigen Gipfel stand er noch nie. Für 36 Stunden ist er in München, will mich – und am liebsten auch die Berge – sehen. Die Idee, Sonntagmittag nach seiner Ankunft Richtung Garmisch aufzubrechen, ab Farchant auf die Weilheimer Hütte zu gehen, dort zu übernachten, findet er großartig, meldet aber Bedenken an. Machbar? Klar, ein passionierter Strandläufer hat das locker drauf.
Ich bin Wiederholungstäter. Mehrmals pro Jahr komme ich hier her. Voller Vorfreude im Frühjahr zum Saison-Openinig. Im Sommer, wenn am Wochenende nur eine Tagestour geht, und am benachbarten Heimgarten viel zu viel los ist. Im Spätherbst zieht es mich noch einmal rauf. Etwas wehmütig zum Abschluss. Längst kenne ich alle Wege zur Weilheimer Hütte. Die Strecken sind mir wohl vertraut und ich teile sie mir sogar in Intervalle ein, um zu wissen ob meine Durchlaufzeit gut ist. Gerade weil diese Tour lediglich Ausdauer erfordert, aber keinesfalls schwierig ist, kann ich mich voll auf meine Wahrnehmung konzentrieren und erlebe immer wieder Überraschendes.
Mit Holger wähle ich die entspannteste Route mit Zwischenstopp-Strategie. Als wir nach unserem gemütlichen Aufstieg von Farchant aus über die lieblich auf einem Hochplateau gelegene Esterbergalm nach fünf Stunden an der Weilheimer Hütte ankommen, bietet sich uns ein Bild bayerischen Urbehagens. Mit einem Weißbier in der Hand genießt jemand auf dem sonnenerwärmten Kupferdach des Anbaues die milde Abendsonne. Es ist Christian, der 40-jährige Wirt, der in Gesellschaft zweier Gäste den Blick Richtung Zugspitzmassiv richtet und auf die Magie der blauen Stunde wartet. „Habt’s es a gschafft? Dann samma ja vollzählig!“ grinst er, während wir uns ebenfalls auf die natürliche Sitzheizung bequemen. Hier saß ich schon oft, aber gemeinsam mit dem Wirt noch nie.
Der Sonnenuntergang ist prächtig und Holger stolz wie Oskar. Als Nordlicht erntet er Anerkennung vom humorvollen Pärchen aus Ebersberg: „Respekt, nit schlecht für einen von der Insel.“ Und Christian Weiermann legt nach: „Seit 12 Jahren bin ich hier Wirt, aber aus Sylt war definitiv noch keiner da!“
Zigmal war ich schon hier oben, aber die Übernachtung ist auch für mich eine Premiere. 20.30 Uhr. Wir sind zu fünft! Daran wird sich im Laufe des Abends nichts mehr ändern. Obwohl: Die Tür bleibe grundsätzlich offen, denn manchmal poltere auch noch nach 23 Uhr ein Wanderer mit Stirnlampe herein. „Am Wochenende bin ich meistens ausgebucht, aber unter der Woche ist es deutlich ruhiger“ erklärt der gebürtige Krüner die Buchungslage und ich beschließe, nur noch antizyklisch in die Berge zu gehen.
Katze Lilly und Kater Alabaster schleichen in die Hütte. Es wird kühler. Während Christian in der Küche verschwindet, um unser Abendessen, ein Trio aus Speck-, Kas- und Brennesselknödel zu zaubern, sitzen wir zu viert in der gemütlichen Stube, trinken Rotwein und starren durch die Fenster. „Hinten links in Rot, das ist die Allianz Arena und rechts das Lichtermeer des Münchner Flughafens“ erklärt uns Christian später bei einem selbst gemachten Latschenschnaps. Was sich uns in den darauf folgenden Stunden durchs Fenster blickend bietet, ist besser als jeder Actionfilm im Kino.
Über dem 80 Kilometer entfernten München braut sich ein mächtiges Gewitter zusammen. Dicke Blitze erhellen im Sekundentakt den kohlrabenschwarzen Horizont. Sogar den Donner hört man grollen. Christian hält es nicht mehr länger in der Stube. Er muss dringend raus, ein paar Bilder machen. Fotografie ist nämlich sein zweites Standbein. Für die Firma Marmot etwa ist er im Winter regelmäßig unterwegs. Außerdem produziert Christian gemeinsam mit dem Wallgauer Martin Kriner Postkarten und Kalender. Während der Ski WM waren die wunderschönen Naturaufnahmen sogar im Kongresshaus Garmisch-Partenkirchen ausgestellt.
Zurück in der Hütte gesellt sich der gelernte technische Zeichner und Schreiner wieder zu uns. Das Dorfleben vermisse er nicht. Er sei lieber in den Bergen. Seine vier Mädels Philomena (2), Johanna (9), Magdalena (13) und Ehefrau Martina hingegen gehen ihm schon manchmal ab. Wobei: Am Wochenende und in den Ferien seien sie ohnehin bei ihm heroben. Auch im Winter kommt er mit Skiern regelmäßig auf die Hütte um nach dem Rechten zu schauen. 27-jährig hat er sie vom Vorgänger übernommen. „Das erste Jahr als Hüttenwirt war schon schwierig“ gibt er zu „jeden Tag gab’s neue Überraschungen.“
Mittlerweile aber hätte sich alles gut eingespielt. Ehefrau Martina kümmere sich um den Einkauf. In der Küche steht der Wirt höchstpersönlich. Nur die Nussecken, die backt seine Mama. Weiermanns setzen auf frische Küche und legen großen Wert auf regionale Produkte. „Alles, was wir hier oben servieren, kommt aus der Region.“ Holger hingegen interessiert sich vor allem für die Technik: das Windrad, die kleine Quelle und die Wasserpumpe, Materialseilbahn, die Solarzellen und biologische Kläranlage. Christian gibt gerne Auskunft und stellt schließlich fest, dass ihrer beider Leben zwar gegensätzlich und doch auf eine Art sehr ähnlich sei: „Auf deiner Nordseeinsel richtet sich das Leben nach den Gezeiten, also nach dem Mond. Meinen Rhythmus hier oben bestimmt die Sonne.“ Seine Waschmaschine etwa könne nur mittags laufen.
Es wird später als geplant, so kurzweilig ist die Unterhaltung mit ihm, der meinem Bild vom klassischen Hüttenwirt immer weniger entspricht und mir dabei noch sympathischer wird als er ohnehin schon war. Wir diskutieren über die Olympiabewerbung 2018 und hören spannende Geschichten von seinen Reisen in den Iran, nach Japan oder Kanada. Hier sitzt ein Hüttenwirt, Familienvater, Freigeist, Weltenbummler und Autodidakt in Sachen Kamera und Küche. Und gelegentlich erkenne ich sogar eine Art Einsiedler in ihm: „Hier oben hab’ ich meine heilige Ruhe. Dauerhaft im Tal möchte und könnte ich wahrscheinlich gar nicht mehr leben.“
Ach ja, und weil’s so lustig ist: Unsere einzigen Konkurrenten, die beiden Langschläfer aus Ebersberg schimpfen uns zum Abschied am nächsten Morgen „Gipfelstreber“. Weil wir noch vor dem Frühstück auf dem Krottenkopf stehen. Holgers erster Gipfelbucheintrag seines Lebens: „Großartig! 7 Uhr. Sylt war schon da. Holger Bünte, DAV Westerland ☺“