Einsame Spitze
Im Dorf El Chaltén in der südargentinischen Provinz Santa Cruz gehören sie im Sommer einfach zum Ortsbild: die freakigen Menschen mit bunten Rucksäcken, die aus der ganzen Welt anreisen, um der Magie der bizarren Bergspitzen im Cerro Torre Massiv oder dem benachbarten Fitz Roy zu erliegen. Etwa 70.000 Trekkingbegeisterte frequentieren jährlich den erst 1985 gegründeten Ort am nördlichen Rand des Nationalparks Los Glaciares, verkündet Jorge Edmundo Velasquez, der Bürgermeister der jüngsten Gemeinde Argentiniens, stolz.
In den Wintermonaten Juni bis September aber wird es still. Sogar die Einheimischen flüchten aus dem „Trekking Capital of Argentina“ und machen Urlaub. Lediglich knapp fünfhundert hartgesottene Bewohner bleiben zurück und trotzen der Einsamkeit, der bitteren Kälte und den gefürchteten Winterstürmen.
Lange vor den Touristen haben ambitionierte Bergsteiger und Kletterprofis die Gipfel Patagoniens für sich entdeckt. Obwohl die Berge dort niedriger sind als die der Dolomiten, zieht es Jahr für Jahr die Creme de la Creme der Alpinszene in den Süden Argentiniens. Es sind die klettertechnisch anspruchsvollen Routen, die den Reiz ausmachen. Zugleich sind alpinistische Erfolgsmeldungen aus Patagonien rar. Der Grund: Ein mehrtägiges Schönwetterfenster zu erwischen, ist so unwahrscheinlich wie ein Lotto-Sechser.
Früher war es ein Abenteuer in Patagonien zu klettern
„Als ich 1995 das erste Mal in El Chaltén war, beeindruckten mich die Unberührtheit Patagoniens und Formschönheit der Berge“, schwärmt der 37-jährige Schweizer Profialpinist Stephan Siegrist. Anfänglich sei es noch ein Abenteuer gewesen dort zu klettern. Man schlief im Zelt, brachte Equipment und Verpflegung für ein paar Wochen mit, denn zu kaufen gab es nichts. Es gab nur die Berge. Seit seinem ersten Besuch hat sich viel verändert in El Chaltén. Mittlerweile gibt es ein Internetcafe, zahlreiche Pensionen, Restaurants und Kneipen.
In den Sommermonaten kann es mitunter eng werden. Im Dorf ebenso wie in der Wand. Elisa Gavina, leitende Angestellte der Firma „Fitz Roy Expeditions“, berichtet von etwa neunzig Profialpinisten, die sich während des Sommers 2009 in El Chalten einquartierten. Stephan Siegrist schätzt zwar das Flair im Ort, wenn sich die Cracks der Szene dort ihr Stelldichein geben, „weil es Spaß macht sich mit internationalen Kollegen auszutauschen“, aber wirklich selig ist er in Patagonien nur im Winter. Dann hat er die Berge für sich alleine. Dann gehören die Wände ihm.
1999 gelang Siegrist die Wintererstbesteigung des Cerro Torre.
Was es bedeutet, die Berge Patagoniens im Winter zu besteigen, weiß Siegrist sehr genau. Er ist Wiederholungstäter. 1999 gelang ihm die Wintererstbesteigung des 3.133 Meter hohen Cerro Torre über die „Ferrari Route“. Ein Erfolg, der ihm internationales Ansehen in der Bergsportszene und erste lukrative Sponsorenverträge einbrachte, ihn aber auch um die Erfahrung der extremen Schwierigkeiten einer Winterbesteigung reicher machte: Da ist die furchtbare Kälte, die einem zusetzt und das wichtigste Werkzeug eines Kletterers, die Finger, beinahe steif gefrieren lässt. Der viele Schnee, durch den man sich teils hüfthoch quälen muss, ehe man den Wandfuß erreicht. Das Eis, welches die kleinen Griffe in der Route überzieht, weshalb er einen Hammer bei sich trägt, um sie frei zu schlagen, bevor er sich dort halten oder sichern kann. Da ist der gefürchtete Wind, der urplötzlich einsetzen und die Seile durch die Luft wirbeln kann. Da sind die Staublawinen, die latent in den Rinnen lauern. Dann kommen die Momente in der Ausgesetztheit, die einem die Gefahr seines Vorhabens bewusst machen und in denen man in Kletterpausen gruseligen „Was-Wäre-Wenn-Gedankenspielen“ nachgeht.
Das Gefühl, es als Erster geschafft zu haben.
Nicht nur in Patagonien, auch an seinem Hausberg, dem Eiger, den er in unterschiedlichsten Routen 27 Mal bestiegen hat, klettert er regelmäßig in den Wintermonaten durch die Nordwand. Wieso er sich das freiwillig antut? Es bliebe für einen Außenstehenden schwer vermittelbar, aber für ihn sei es nun einmal ein Moment der absoluten Glückseligkeit im Winter alleine auf einem Gipfel zu stehen. So argumentiert der Philosoph in Siegrist.
Ist ein Gipfel im Winter noch „jungfräulich“, sei der Reiz natürlich doppelt groß. Da spricht der Profi aus dem Eidgenossen. Um sich dauerhaft an der Spitze im Alpinsport zu behaupten, muss einer wie Siegrist schon ein paar Highlights bieten, die ihn einzigartig machen. Der Druck der Konkurrenz sei schließlich groß. Das Gefühl, etwas als Erster geschafft zu haben, sei außerdem erhebend.
Erfolg und Drama - ein schmaler Grat.
Ende Juli brach Siegrist, der zur erlesenen Auswahl einer handvoll Menschen gehört, die bereits auf allen vier Spitzen des Cerro Torre Massivs – dem Punta Herron, Cerro Standhard, Torre Egger und Cerro Torre selbst – standen, in Begleitung seiner Kletterpartner Dani Arnold und Thomas Senf zu seiner zwölften Expedition nach Patagonien auf.
Auf dem 2900 Meter hohen Torre Egger, der schwierigsten Spitze der Bergkette, standen bisher überhaupt erst einige wenige Seilschaften. Im Winter war noch niemand oben. Ein gewichtiger Grund es zu versuchen.
Drei Nächte hat das kleine Team bei Temperaturen von minus 35 Grad in der Wand verbracht. Während sich die Bergsteiger in der ersten in einem vergleichsweise angenehmen Biwak auf einem Gletscherabbruch noch ein wenig erholen konnten, wurde in der darauf folgenden klar, dass es besser sei, den Temperaturen von minus 35 Grad sprichwörtlich davon zu laufen und die Nacht durchzusteigen. Nach einer 22-stündigen Nonstop-Kletterei erreichten die drei Alpinisten um 3.30 Uhr den eisigen Gipfelpilz, eine in alpinen Kreisen gefürchtete Schnee-Eis-Haube auf der Spitze des Torre Egger, die als bergsteigerischer Albtraum gilt. Mit Klettern im klassischen Sinne kommt man dort nicht weit.
Es ist eher ein sehr riskantes Sich-Hinaufwühlen durch eine senkrechte Pulverschneemasse. Dazu braucht es Tageslicht und folglich hieß es darauf warten. Die Kletterer fixierten sich an Seilen, gruben kleine Sitzlöcher in die Vertikale und verkrochen sich vier Stunden in ihre Schlafsäcke, das Zelt lose übergestülpt, um sich wenigstens gegen den eisigen Wind zu schützen. Aus einer Sommerbegehung des Torre Egger über die Route „Titanic“ im Jahr 2007 wusste Stephan Siegrist von der Existenz eines Eiskanals auf der Südseite des Pilzes. Und tatsächlich: es gab ihn noch! Am 3. August 2010 gegen Mittag standen Stephan Siegrist, Dani Arnold und Thomas Senf als erste Seilschaft im Winter auf dem Gipfel des Torre Egger. Ohne vorgängiges Anbringen von Fixseilen und ohne Anlegen von Materialdepots. Im lupenreinen Alpinstil. Nur eine gute Woche nach ihrem Abflug aus der Schweiz.
Über den überraschend schnellen Erfolg mehr als glücklich ist das Dreimannteam wieder wohlbehalten in El Chaltén gelandet. Eigentlich wollten sie rasten und ein wenig feiern. Doch dann mussten Siegrist und seine Kameraden nach einem Wetterumschwung ausrücken, um bei einer Rettungsaktion zu helfen. Ihr beherzter Einsatz war vergebens, ein sehr erfahrener argentinischer Bergsteiger erfror am Passo Marconi. Einem Ort, an dem im Sommer zahllose Trekkingtouristen fürs Fotoalbum posieren.