Eiszeit

40 Grad unter null. Geschützt nur durch ein Zelt kauern Alexander, Thomas, Stephan und Max wortlos nebeneinander in ihren Schlafsäcken. Draußen tobt seit Stunden ein höllischer Schneesturm. Inmitten der Antarktis. Fernab jeder Zivilisation. Hilflos sind sie dem gefürchteten „White-Out“ ausgeliefert. Jeder hängt auf seine Art dunklen „Was-Wäre-Wenn-Gedankenspielen“ nach. Wer jetzt austreten muss, verliert bereits nach ein paar Schritten völlig die Orientierung.

Auf der Suche nach neuen alpinistischen Herausforderungen stießen die bayerischen Extremkletterer Alexander und Thomas Huber, der Schweizer Profialpinist Stephan Siegrist und der Kameramann Max Reichel Ende 2008 in Queen Maud Land auf riesige, bizarre Pfeiler aus Granit. Gigantisch schöne Felswände. Prüfsteine der physischen Belastbarkeit. Wie nirgends sonst in der Antarktis ragen dort Türme wie Zähne aus dem Weiß. Diese „Nunataks“ (Sprache der Inuit: aus dem Eis ragenden Gipfel) sind aber lediglich die Spitzen eines Gebirges, das zu zwei Dritteln von Eis bedeckt ist. Im Laufe einer sechswöchigen Expedition gelangen eindrucksvolle neue Routen am „Ulvetanna“ (Wolfszahn, 2931 m) und dem 8 km entfernten „Holtanna“ (Hohlzahn, 2650 m).

Im Buch „EISZEIT“, kürzlich erschienen bei Frederking & Thaler, schildern die Extrembergsteiger, hochwertig bebildert, ihre spektakulären Erlebnisse im ewigen Eis. Dass die Kälte die größte Herausforderung darstellen würde, war klar. Wie sehr aber die tiefen Temperaturen dann tatsächlich an ihnen nagten, überraschte selbst Alexander Huber: „Das war Klettern im klimatischen Ausnahmezustand!

So schön diese Gegend ist, bei Schlechtwetter verwandelt sich die Region in den Vorposten zur Hölle. Die abartige Kälte kostete uns enorm viel Kraft.“ Anfänglich hofften die Bergsteiger – zumindest in schwierigen Kletterpassagen – auf Handschuhe verzichten zu können, also ein paar Züge zu klettern, um dann die Finger unter den Achseln wieder kurz aufzuwärmen. Erste lokale Erfrierungen an Fingern und Zehen haben sie aber rasch eines Besseren belehrt.

Bei Tiefsttemperaturen von minus 46 Grad, die sich durch den katabatischen Wind (griechisch, katabatikos: herunter fließen), einem ablandigen Fallwind, zu gefühlten minus 56 Grad entwickeln, mussten nicht nur ständig Handschuhe, sondern anstelle der leichten Kletterschuhe auch vergleichsweise klobige Bergschuhe getragen werden. „Mit Schwierigkeitsgraden 7 und 8, sonst überhaupt kein Problem für uns“, erzählt Thomas, „waren wir hier am absoluten Limit.“

Auch der Eidgenosse Stephan Siegrist erinnert sich noch bestens an die Kälte: „Obwohl während der Sommermonate in der Antarktis Polartag herrscht, die Sonne nie wirklich untergeht, ist es bitterkalt. Das schränkt dich in der Wahl der Routen extrem ein. Kletterst du vorwiegend im Schatten, kannst du die Linie gleich vergessen “

120 atemberaubende Fotos lassen den Leser beim bloßen Durchblättern des Buches EISZEIT bereits die Einzigartigkeit der Expedition erahnen. Bilder aus dem endlosen Weiß der Antarktis, von gigantischer Weite und spektakuläre Kletteraufnahmen an bizarren Felsformationen wecken pure Abenteuerlust und visualisieren die Faszination absoluter Stille. Dem Fotografen Max Reichel ist es nicht nur gelungen, die beeindruckende Schönheit der Antarktis, sondern auch die klirrende Kälte bildlich festzuhalten.

Ob in den Gesichtern der Bergsteiger oder in einer wahren Fotorarität: der Aufnahme einer Kälte-Fatahmorgana. Obwohl: alle Fotos sind Raritäten, hatte doch, wie man im Buch erfährt, die gesamte Technik regelmäßig aufgrund der tiefen Temperaturen vorübergehend den Geist aufgegeben. In 28 spannenden Kapiteln schildern die vier Expeditionsteilnehmer ihre Grenzerfahrungen im Eis. Neben alpinen Highlights, wissenschaftlichen Exkursen und persönlichen Momenten erfährt man auch Kurioses im Buch. „Wir haben in der totalen Abgeschiedenheit gefroren, geschuftet, aber auch gefeiert. Nicht nur unsere Erfolge, auch zwei Geburtstage im Team.“, erzählt Alexander.

Neben gefriergetrockneter Pasta und diversen Reisgerichten in Beuteln hatten die Alpinisten eigens dafür auch Süßigkeiten, Kerzen und Hochprozentiges in einer der 28 Transport-Boxen mitgebracht. Doch es kam besser. Als nämlich Könige aus dem Morgenland erschienen. Und wie es sich für Majestäten geziemt, führten sie reichlich Gaben mit: frisch gebackenen Stollen, Bier, Käse, Cracker und – ob man’s glaubt oder nicht – Champagner! Manna vom Himmel? Biblische Szenen im Eis? „An Dekadenz kaum zu überbieten“ erzählt Thomas, aber zweimal innerhalb sechs Wochen bekamen die vier Männer überraschend für ein paar Stunden Besuch in der Stille und staubten kopfschüttelnd wahre Luxusgüter ab. Von Menschen, u. a. Königlicher Besuch aus Saudi Arabien, die für € 40.000,00 eben mal in die Antarktis fliegen und dort speisen.

Beinahe abenteuerlicher als die Kletterei empfand Thomas Huber den Flug von Kapstadt in die Antarktis: „Der Flug mit der Iljuschin, einem russischen Frachtflugzeug, war schon heftig. Erst wollte der Vogel in Kapstadt nicht abheben. Und dann nicht landen! Nach einer ca. 6 km langen Schlitterfahrt kam unser Flieger irgendwie auf dem Blaueisfeld von Novo-Airport (Russische Forschungsstation Nowolasarewskaja) zum Stillstand.“
„Die Wochen in der Antarktis waren extrem schön und erfüllend“, sagt Alexander Huber. Ihr Ende freilich – auf ihre Art ¬– auch: Die erste Dusche und Rasur nach sechs Wochen sei „unvorstellbar wonnig“ gewesen.

Alexander Huber, Thomas Huber
Eiszeit
Expedition Antarktis
160 Seiten, ca. 120 Abbildungen, Hardcover mit