Die Fingerspitzen sind mein Horizont
Auf seiner Homepage ist ein Trailer zum jüngsten Erfolg am Mount Vinson hinterlegt. Vier Männer im endlosen Weiß der Antarktis, umgeben von einem traumhaften Panorama auf ihrem Weg nach oben. Was in den steilen Passagen völlig unbemerkt bleibt, wird auf der Ebene deutlich: Andy Holzer wird von seinem Kollegen auf den letzten Metern zum Gipfel am Arm geführt. Sobald es flach wird, braucht er eine kleine Orientierungshilfe: Andy Holzer ist nämlich von Geburt an blind.
International Mountain Summit, November 2010 in Brixen
In Holzers Vortrag „Den Sehenden die Augen öffnen“ bestaunen 500 Besucher – zum Teil unter Tränen der Rührung – wunderschöne Aufnahmen von seinen Touren. Bilder, die er selbst nie gesehen, aber intensiv gefühlt und somit auf seine Art wahrgenommen hat: Andy in der Gelben Kante der Kleinen Zinne, in der Südwand des Preußturmes, auf dem Gipfel des Aconcagua, Elbrus, Kilimandscharo oder Mount McKinley. In seinen packenden und humorvollen Schilderungen, die einem jede Berührungsangst nehmen, erfährt das Publikum staunend die Logik hinter seinem Tun: „Ich muss mir meine Welt ertasten und erfühlen, die Fingerspitzen sind quasi mein Horizont. In den Bergen bin ich daher in meinem Element.“ Besonders wohl fühle er sich, wenn es richtig steil wird, weil er dann auf allen Vieren gehen, also klettern, kann. Die Idealposition für einen Blinden.
Bei den Menschen kommt er an. So mancher Alpinstar rümpft die Nase.
Unmittelbar bevor Holzer von seiner Ehefrau Sabine, seit 20 Jahren an seiner Seite, von ihm liebevoll als sein „Bodenpersonal“ genannt, zum Rednerpult geführt wird, sieht man ihm leichte Nervosität an. „Hier in Brixen wimmelt es von Bergprofis, die Außergewöhnliches vollbringen. Auf diesem Terrain fühle ich mich nicht sonderlich wohl.“ Was den Veranstalter aber nicht davon abhält, den Holzer-Vortrag zur Primetime anzusetzen. Zu Recht. Volles Haus. Das schaffen sonst nur Schwergewichte à la Reinhold Messner oder Alexander Huber. Andy Holzer berührt die Menschen, schließlich wollen alle wissen, wie er das bloß macht. Auch sein kürzlich erschienenes Buch „Balanceakt“ avancierte zum Kassenschlager. Was die Kollegen aus der Bergsteigerszene wohl von ihm hielten? Er hält kurz inne und gibt dann zu: „Begeistert sind die nicht gerade, dass jetzt auch noch ein Blinder daher kommt, Bücher schreibt und Vorträge hält. Aber momentan lebe ich vom Bergsteigen und bin dankbar, dass sich die Menschen für mein Tun interessieren.“
Die Berge, sein Abenteuerspielplatz.
Als er gemeinsam mit seinen Eltern erstmals eine ausgedehnte Wanderung in den Osttiroler Dolomiten unternahm, entdeckte er einen wahren Abenteuerspielplatz für sich. Die Berge! Was gab es dort nicht alles zu entdecken: Duftende Blumen, schroffe Felsen, weiche Wiesen und plätschernde Bäche. „Außerdem“, erklärt Andy Holzer während einer Wanderung mit 50 Gästen des IMS auf die Rastnerhütte/Rodeneckeralm „kommt mir die Stille der alpinen Landschaft unheimlich entgegen. Ich kann mich dort als Blinder wesentlich besser orientieren als im reizüberfluteten Tal.“ Mit den Jahren wurden die Berge höher, die Wege steiler und die Routen immer anspruchsvoller. Heute klettert er in einer Seilschaft mit einem Sehenden im siebten Grad. Routen, die er besonders gut kennt, auf seine Art „eingescannt“ hat, meistert er sogar im Vorstieg.
Blindenschrift hat er nie gelernt.
Schließlich hätte er dafür als Bub sein Heimatdorf Amlach in Osttirol verlassen müssen um im fernen Wien eine Blindenschule zu besuchen. Das hätte seinen Eltern und ihm Herz gebrochen. Also besuchte er in einer Zeit, in der Integration noch ein Fremdwort war, die Volksschule. Wie alle anderen Kinder. Das Wort „Behinderung“ kommt in seinem Vokabular nicht vor. Das Fehlen des Augenlichts hat ihn schließlich an nichts gehindert: er fuhr Fahrrad, ging Skifahren, im Sommer surfen und spielte leidenschaftlich gerne Gitarre.
Der Mount Everest. Eine riesige Herausforderung.
Über ein paar Sponsoren, seine Vorträge und den Verkauf seines Buches finanziert der gelernte Heilmasseur momentan sein Leben und die teuren Expeditionen. Um das Projekt „Seven Summits“ finalisieren zu können, hat er sich eine dreijährige Auszeit vom Beruf genommen. Da er auch für seine Begleiter, die er zwingend für seine Expeditionen braucht, die Gelder akquirieren muss, „kommt da schon ein ziemlicher Batzen Geld zusammen.“ Ob er je auf dem Gipfel des Mount Everest stehen könne, hinge somit auch davon ab, ob er überhaupt die Finanzierung für dieses Großprojekt auf die Beine stellen könne.
Er glaubt an Gott, das Schicksal und vertraut dem Leben.
Als Andy Holzer zum ersten Mal fürs Fernsehen in einer Route gefilmt werden sollte, tritt die unwahrscheinlichste aller Möglichkeiten ein: Erik Weihenmayer, der blinde Klettersuperstar aus den USA, versuchte sich just zum selben Zeitpunkt in derselben Route. Aus dieser zufälligen Begegnung ist eine tiefe Freundschaft entstanden. Es folgten gemeinsame Kletter- und Hilfsprojekte. Das Urvertrauen in das Leben, das Holzer ausstrahlt, zieht einen in den Bann. Er spricht ganz offen über seine enge Beziehung zu Gott, obwohl dies heutzutage als „uncool gilt“. Beim Erreichen eines Gipfels bedankt er sich beim Herrgott und bittet zugleich um Schutz für den Abstieg. Kein Klagen an höchster Stelle?
Über das Fehlen des Augenlichtes etwa? Frappierend die Antwort: „Ganz ehrlich, wenn es medizinisch machbar wäre und ich morgen sehen könnte, würde das mein Leben gewaltig erschüttern. Mein Leben ist erfüllt und selbstbestimmt. Ich bin glücklich. Es ist gut so wie es ist.“ Nach ein, zwei Stunden in seiner Gesellschaft wird einem bewusst, was er hat, aber vielen Sehenden fehlt: Er hat gelernt zu vertrauen, blind zu vertrauen. Seiner Frau, seinen Freunden, Kletterpartnern, jedem Menschen in seinem Umfeld. Er hat auch gelernt, Schwächen sofort preiszugeben, sie nicht zu überspielen. Und so packt er seinen Vordermann von hinten am Rucksack, wenn er die ersten Stimmen von der Hütte kommend hört: „Jetzt brauche ich Hilfe. Bitte kurz auf die Terrasse lotsen und dann die Speisekarte vorlesen.“
Andy Holzer inspiriert. Er macht Mut. Sogar zur Schwäche. Die Berge sind dabei nur sein Vehikel. Weil er über einen extrem stark ausgeprägten Gleichgewichtssinn verfügt, hätte er scheinbar auch einen guten Surfer abgegeben: „Wäre ich etwa in Hamburg geboren, hätte mich das Wasser fasziniert. So aber habe ich mein Glück in den hohen Bergen gefunden."