Grenzerfahrungen am Ende der Welt
Dass heutzutage jeder Bergsteiger nach einer großen Expedition spektakuläre Bilder veröffentlicht, ist Pflichtprogramm im Leben eines Profis. Dieser Bildband enthält freilich auch ein paar davon. Viel wertvoller allerdings erscheinen jene Fotos, die es in kein Alpinmagazin schaffen würden. Und davon gibt es reichlich: Irgendwo in Kanada. Glowacz sitzt völlig ausgezehrt neben seinem Zelt auf einem Stein. Leerer Blick. Im Hintergrund hängt auf einer Leine Wäsche, nass und schmutzig. Helden sehen anders aus. Viel eher ginge Glowacz darauf als Obdachloser durch.
Bewegend auch ein Foto aus einem Supermarkt, den drei ungepflegte Männer, sichtlich ausgehungert, stürmen. Noch während des Bezahlvorgangs stopfen sie sich die ersten Kekse in den Mund.
All diese Bilder erzählen bereits eine Geschichte für sich, weshalb man das Buch, sobald man es aufschlägt, erst einmal in einem Satz durchblättert und die wunderschönen, zum Teil sehr nachdenklichen Fotos bestaunt. In einem zweiten Durchgang geht man tiefer und studiert die markanten Titel, Überschriften oder handschriftlichen Notizen aus seinem Tagebuch. Ein Beispiel: „Wir haben unseren Proviant völlig falsch berechnet und müssen bereits am dritten Tag die Tagesration halbieren. Von nun an wird es eine Tour des Leidens“. Oder etwa: „Wolf setzt die Segel und sagt: Seid guter Dinge und rechnet mit dem Schlimmsten. Das tun wir, aber es kommt noch viel, viel schlimmer!“
Das weckt Neugierde, sodass man das Buch nicht mehr aus der Hand legt, bis man auch die nachdenklichen Texte von Stefan Glowacz verschlungen hat. Die acht Kletterexpeditionen, die er in seinem Buch dokumentiert, könnten gegensätzlicher nicht sein. Er schwitzt unter der Sonne Kenias, friert auf Baffin Island oder in Patagonien. Mal treiben ihn Hunger und Insekten schier in den Wahnsinn, mal schleppt er ein Kanu durch den Dschungel, kotzt zwei Wochen lang auf einem Segelboot oder wartet tagelang in einer Eishöhe auf Wetterbesserung. Ein Grenzgang sind seine Kletterexpeditionen offensichtlich immer.
Die Herausforderung einer Wand ist sicher Kern einer jeden Expedition. Sie definiert schließlich das Ziel. Wenn man sich aber wie Glowacz „by fair means“ , also aus eigener Kraft, bewegt, genügt der Gipfel nicht. Auf den Weg dorthin kommt es ebenso an. Man lässt sich nicht an den Wandfuß fliegen, schleppt sein Equipment vom letzten Punkt der Zivilisation aus bis hin zum Objekt der Begierde selbst. Aus eigener Kraft. Und wieder retour. Der Weg ist das Ziel.
Beinahe scheint die Entlegenheit der Kletterwände zwangsläufiger Bestandteil seiner Expedition zu sein, um auf dem Weg dort hin Herausforderungen zu meistern, sich lauernden Gefahren zu stellen, körperlich und mental an seine Grenzen zu gehen. Mühselig – ein geflügeltes Wort bei Glowacz: Qual und Glück gehören für ihn offensichtlich irgendwie zusammen.
Das Buch, das kein Heldenepos und deshalb in der Bergsteigerszene eine echte Rarität ist, endet im totalen Fiasko. Mit einer bitteren Niederlage in Nepal diesen Sommer. Nach drei Wochen beschwerlicher Anreise scheitert Glowacz in der komplett vereisten Südwand des 7200 Meter hohen Gauri Sankar nach nur 20 Metern in der Steilwand: „(...) wir brechen die Expedition endgültig ab. So kläglich bin ich noch nie gescheitert.“
Stefan Glowacz/Tanja Valérien Glowacz
Stefan Glowacz Expeditionen -
Extremklettern am Ende der Welt
Verlag: Delius Klasing