Grosser Preis mit kleinem Haken
Ein Interview mit Nicolas Favresse (31).
Herr Favresse, beschreiben Sie sich bitte in drei Worten!
Favresse Frei, unorganisiert und idealistisch.
Nehmen wir an, Sie können Frühstück, Mittag- und Abendessen an drei unterschiedlichen Orten dieser Welt einnehmen. Wohin führt Sie diese Reise?
Favresse (Lacht) Frühstücken würde ich auf einem Boot. Irgendwo mitten im Atlantik. Mittags wäre ich dann wohl im Yosemite Park, am besten am El Capitan. Und mein Abendessen würde ich an einem Straßenrand, ganz egal wo, einnehmen. Ich wäre per Anhalter unterwegs. Das würde nämlich bedeuten, dass diese magische Reise weiterginge.
Was macht Sie zufrieden? Was können Sie nicht ausstehen?
Favresse Ich mag es, mich körperlich zu verausgaben. Die Pause danach, unter freiem Himmel in schöner Landschaft, ist göttlich. Was mich ärgert? Oberflächliche Menschen nerven mich. Leider gibt es viele davon.
Für Ihre Grönland Expedition im Jahr 2010 haben Sie und Ihr Team den Piolet d’Or erhalten. Ich habe gelesen, dass Sie nicht nur überrascht, sondern auch beschämt darüber waren. Warum?
Favresse Überhaupt für den Piolet d’Or nominiert zu sein, war eine riesengroße Überraschung für uns. Diesen Preis dann auch noch zu gewinnen, war wirklich völlig unerwartet. (Lacht) Man muss sich das einmal vorstellen: Wir erhalten einen goldenen Pickel, ohne überhaupt einen Pickel während der gesamten Expedition verwendet zu haben! Das ist doch kurios, oder? Im Vergleich zu den anderen Nominierten, die sich auf ihren äußerst anspruchsvollen Expeditionen in höchsten Höhen durch Schnee und Eis kämpfen mussten, sah unsere Unternehmung wie ein Romantik-Urlaub aus: ein Segelboot, blaues Meer, viel Musik . . . Ganz ehrlich, nicht eine Sekunde haben wir an den Piolet d’Or gedacht. Unsere Expedition lässt sich nicht mit den beeindruckenden Leistungen anderer Nominierter vergleichen. Es beschämt mich insofern, als dass alle den Preis mindestens genauso verdient hätten wie wir.
Der Piolet d’Or ist gewissermaßen der Oscar des Bergsports. Warum glauben Sie hat die Jury für Sie gestimmt?
Favresse (Lacht) Ich glaube am meisten hat sie unsere Musik überzeugt . . . Nein, Spaß beiseite, so wie ich die Jury verstanden habe, fiel die Wahl auf uns, weil wir fern von jedem Konkurrenzdenken ein starkes, humorvolles Team waren. Aber auch die Ethik des Clean-Kletterns, die wir verfolgten, hat die Jury offensichtlich honoriert. In den neun Routen, die wir in Grönland eröffnet haben, hinterließen wir nur einen einzigen Bohrhaken. Außerdem glaube ich, dass unsere Philosophie belohnt wurde. Klettern ist eine Sache. Aber wir hatten auch richtig Spaß. Und so haben wir nicht nur auf dem Boot, sondern auch in der Wand richtige Jam-Sessions veranstaltet, sind zwischen Eisbergen geschwommen und hatten ganz nebenbei unseren 76-jährigen Skipper bei einer Erstbegehung dabei.
Und? Hat er es geschafft?
Favresse Ja, die Route „Never again“ hat Bob Shepton am 20. August 2010 erfolgreich gemeistert. Dazu muss man aber wissen, dass Bob in jungen Jahren ein sehr guter Kletterer war.
In den Routen bewegten Sie sich immerhin zwischen dem 9. und 10. Schwierigkeitsgrad. Kokettieren Sie jetzt mit dem Spaßfaktor?
Favresse Ernsthaftigkeit schließt doch Spaß nicht aus. Je schwieriger ein Projekt ist, umso mehr Freude und in der Folge Humor tanken wir aus unserem Tun. Das eine bedingt doch das andere.
Bevor Sie überhaupt Hand an den Felsen legten, mussten Sie erst einmal einige Abenteuer auf hoher See überstehen. Waren Sie bereits ein erfahrener Segler?
Favresse Ben und Sean traten die Expedition an, ohne je auf einem Segelboot gestanden zu haben! Mein Bruder Olivier und ich hatten zwar ein wenig Erfahrung, allerdings nur von ein paar harmlosen Ausflügen auf dem Mittelmeer, was sich gewaltig vom Segeln durch Eisberge unterscheidet. Vor allem der Heimweg, über den Atlantik nach Schottland, war heftig. 15 Tage lang haben wir kein Land gesehen, uns dabei pausenlos übergeben, weil es so stürmisch war. Aber Captain Bob ist ein sehr erfahrener Segler, weiß genau, was er tut, hat uns bestens instruiert und, wie Sie sehen, gut nach Hause gebracht.
Ihr 76-jähriger Skipper Bob Shepton war früher Priester. Haben Sie zusammen gebetet?
Favresse (Lacht) Er hat für uns gebetet, wir aber nicht mit ihm. Keiner aus unserem Team ist wirklich religiös. Ich selbst bin zwar in katholischer Tradition aufgewachsen, fühle mich aber keiner Religion ausschließlich zugehörig. Im Übrigen hätten wir, wenn Bob es nicht erzählt hätte, nie im Leben gedacht, dass er ein Priester sei. Er praktizierte seinen Glauben an Bord im Stillen, hat aber nie versucht uns irgendetwas davon aufzuzwingen.
Wo steht der Piolet d’Or jetzt eigentlich?
Favresse Eigentlich wollten wir nicht darüber sprechen. Wir haben ihn nämlich einschmelzen und eine schöne Kette daraus anfertigen lassen. Diese werden wir in der nächsten Big Wall, in der wir gemeinsam klettern, an den Abseilanker hängen. So haben alle etwas davon.
Fünf Männer, drei Monate auf einem 10 Meter langen Segelboot. Was stellt das Fehlen einer Rückzugsmöglichkeit mit einem an?
Favresse Wenn man so lange aufeinander hockt wie wir, irritiert das schon, wird man phasenweise müde voneinander. Im Normalfall nimmst du dir in so einem Moment eine kleine Auszeit und alles ist wieder gut. Aber auf einem Boot hast du diese Option nicht. Die durchaus schwierige Situation mit Anstand zu meistern, war eine gewisse Herausforderung, die uns am Ende noch mehr zusammengeschweißt hat.
Eine Ihrer Routen in Grönland haben Sie „Devil’s Brew“ getauft. Welche Geschichte steckt hinter diesem Namen?
Favresse Wir hatten ein furchtbares Gesöff aus Vietnam dabei. Eine Flasche starken Alkohols, in dem eine Schlange, ein Skorpion und seltsame Wurzeln eingelegt waren. Um abzuchecken, wie unser Skipper, den wir vorher nicht kannten, in etwa tickt, haben wir ihm bei unserem ersten Treffen in Grönland diese Flasche geschenkt. Wir wollten aus seiner Reaktion Rückschlüsse auf seine Persönlichkeit ableiten. Und was tat Bob? Er nahm unvermittelt einen kräftigen Schluck daraus. Als wir dann endgültig zu ihm aufs Boot kamen, offerierte er uns zur Begrüßung natürlich einen Drink aus eben dieser Flasche: „May I offer you some Devil’s Brew?“ Und ich sage Ihnen, das Zeug schmeckte gar widerlich.
In dieser Route „Devil’s Brew“ lief es nicht wirklich nach Plan. Dauerregen zwang Sie zu einer mehrtägigen Pause in Ihren Hängezelten. 11 lange Tage lebten Sie in der Wand. Hat das Musizieren über dem Abgrund Sie davor bewahrt, verrückt zu werden oder aufzugeben?
Favresse In der Tat waren wir lange in dieser Wand. Um genau zu sein von 11. bis 22. Juli 2010. Und ja, die Musik war schon essentiell. Sie hat uns aber nicht davor bewahrt verrückt zu werden. Ich denke, wir waren es bereits. Eine Jam-Session ein paar hundert Meter über dem Abgrund bei tosendem Sturm – das ist schon ziemlich abgefahren.
Wie viele Musikinstrumente hatten Sie denn mit in der Wand?
Favresse Da muss ich nachzählen. Also eine Mandoline, eine kleine Ziehharmonika, vier Flöten, drei Mundharmonikas, zwei Maultrommeln, zwei Löffel – das macht nach Adam Riese 13 Instrumente.
In Bad Reichenhall saßen Thomas und Alexander Huber im Publikum. Die „Huberbuam“ waren nach Ihrem Vortrag voll des Lobes, was den Stil und Spirit Ihrer Expedition betrifft. Was bedeutet Ihnen deren Wertschätzung?
Favresse Thomas und Alexander waren immer schon Vorbilder und eine große Inspiration für meinen Bruder Olivier und mich. Beide waren wegweisend im Freiklettern. Sowohl im Sport- als auch Big-Wall-Klettern. Nach wie vor behaupten sich die Huberbuam als Frontmänner in unserem Sport. Insofern bedeutet uns ein Lob aus deren Munde viel. Außerdem ist es für Olivier und mich natürlich großartig zu sehen, wie gut sie als Brüder funktionieren.
Kommentar Michael Pause
Ein Kommentar dazu von Michael Pause (58), Jurymitglied zum diesjährigen Piolet d’Or, der zum 19. Mal verliehen wurde.
Der gebürtige Münchner ist Redakteur und Moderator der Sendung „Bergauf-Bergab“ im Bayerischen Fernsehen, künstlerischer Leiter des Internationalen Bergfilmfestivals am Tegernsee und Buchautor.
„Die Veranstalter der Piolets d' Or wünschen sich in gewisser Weise, dass die Öffentlichkeit die Auszeichnung als eine Art "Oscar" des Alpinismus betrachtet. Eine Parallele ist dabei insofern gegeben, als allein schon das Erreichen des Finales (die Nominierung) als große Auszeichnung zu sehen ist.
Die Festlegung auf einen oder mehrere Sieger ist nämlich durchaus umstritten, weil sich bergsteigerische Leistungen letztlich in ihrer Qualität nur schwer vergleichen lassen. Das war auch der Grund, warum die Jury in diesem Jahr zwei Expeditionen herausgehoben hat: die große Erstbegehung der beiden Japaner Yasushi Okada und Katsutake Yokoyama in der 2500 Meter hohen Südostwand des Mont Logan (5959 m) sowie die neun Big-Wall-Erstbegehungen in Grönland, die den belgischen Favresse-Brüdern zusammen mit Sean Villanueva und Ben Ditto gelungen waren.
Es war ein absolutes Novum in der Geschichte der Piolets d'Or, dass neben klassischen Unternehmungen im extremen Fels und Eis hoher Gipfel auch eine alpinistische Leistung gewürdigt wurde, deren Einstieg sich exakt auf Meereshöhe befand. Die belgisch-amerikanische Seilschaft überzeugte auch mit einem großartigen "Spirit" und höchsten Ansprüchen an die Kletterethik; die Absicherung erfolgte mit Ausnahme eines einzigen (!) Bohrhakens ausschließlich mit mobilen Sicherungen (Friends, Klemmkeilen u.ä.). Über die Jury-Entscheidung rümpfte zwar der eine oder andere Traditionalist die Nase, aber kein Geringerer als der große Doug Scott, der den Piolet d'Or für sein Lebenswerk erhielt, lobte sie jedoch ausdrücklich.
Die Tatsache, dass eine Jury einen (oder mehrere) Gewinner kürt, entspricht eigentlich nicht der Grundidee des Bergsteigens - und der Piolets-d'Or-Macher. Andererseits lassen sich die Medien nicht anlocken, wenn sie nicht entsprechende Helden- und Sensationsmeldungen verbreiten können. Dieses "systemimmanenten" Problems müssen sich Teilnehmer und Besucher der Veranstaltung bewusst sein.
Das Entscheidende bei den Piolets d'Or ist in meinen Augen ohnehin, die Bergsteiger-Community am Fuß des Montblanc zu versammeln. Was früher das Bergfilm-Festival von Trient auszeichnete, nämlich die Bergsteigergrößen aus aller Welt in die Stadt zu holen und so für ein paar Tage zu einer Hauptstadt des Alpinismus zu werden, das sollten in der Zukunft Chamonix und Courmayeur anstreben. Dazu passt übrigens die Initiative der beiden traditionsreichen Orte am Fuß des Montblanc, bei der UNESCO für den Alpinismus den Status des Weltkulturerbes zu beantragen.“