Ein Lemur müsste man sein!
Mit den beeindruckenden Bildern von Daniel und Ari Gebels Expedition im Jahr 2005 ins Tsaranoro Massiv im Andringitra Nationalpark fing alles an. 2007 kam Toni Lamprecht mit wunderschönen Kletteraufnahmen aus dieser Region zurück. Lukas und Wusel waren richtig fasziniert und beschlossen dort auch zu klettern. Irgendwann. Diesen Sommer war es soweit. Nachdem die Kollegen Gebel/Lamprecht bereitwillig Auskunft erteilten und wertvolle Informationen schickten, ging es Anfang August von München über Dubai und Mauritius nach Antananarivo, der Hauptstadt Madagaskars. Mit im Flieger die beiden Teamkollegen Philipp Hofmann und Tobias Baur.
Als sie in der Abendsonne erstmals vor der 700 Meter hohen, rötlich schimmernden Wand stehen, sind sie sprachlos. Senkrecht ragt sie in den Himmel. Ein paar Risse sind zu sehen. Wie gemalt. Eine Filmkulisse. Wunderschön, fast surreal. Und die Landschaft erst! Dschungelähnliche Grünstreifen durchwandern sie täglich beim einstündigen Zustieg zur Wand. Sternenhimmel werden sie sehen, wie nie zuvor in ihrem Leben. Sonnenauf- und Untergänge vom Allerfeinsten. Kleine Flüsse mäandern durch das dünn besiedelte Tal, in dem die Menschen ausschließlich von der Landwirtschaft leben und mit dem Wenigen, das sie haben, glücklich sind.
In den Nächten wird es stockfinster, kein Licht aus irgendeiner Stadt erhellt den Horizont. Still ist es in den Nächten, als wären sie alleine in dieser märchenhaft schönen Welt. Ganz stimmt das aber nicht. Im Camp Catta wohnen ein paar Touristen in kleinen Bungalows und lassen sich verwöhnen. Obwohl Madagaskar 1960 seine Unabhängigkeit von Frankreich errang, verhalten sich einige Franzosen hier nach wie vor wie Kolonialherren. Ein Grund mehr im Camp lediglich die Zelte aufzuschlagen, sich aber sonst völlig unabhängig selbst zu versorgen.
Dabei kommt es allerdings zu groben Engpässen – oder besser – Einseitigkeiten. Die ersten eineinhalb Wochen gibt es Reis mit Tomaten, ohne Salz. Worauf die vier Männer nämlich nicht wirklich vorbereitet sind: die nächste Einkaufsmöglichkeit ist 3,5 Autostunden vom Camp entfernt. Die Fahrt dorthin im Jeep mit Fahrer kostet 100 Euro und wird daher nur einmal gebucht. Danach gibt es: Pasta mit Thunfisch. Zur Abwechslung ein paar Pfannkuchen. Zum Frühstück bewährt sich ein kräftiger Schluck Schnaps, um eventuelle Keime abzutöten.
Das Tsaranoro Massiv ist ein Paradies für Kletterer, Bergsteiger und Trekker. Auch Boulderblöcke hat es viele. Und das Schönste: Hier hat man seine Ruhe. Nur eine Handvoll Kletterer ist zeitgleich da: zwei Engländer, ein Schweizer und ein Südtiroler. Madagaskar lockt mit 500 Millionen Jahre altem Granit. Der Fels ist sehr kompakt, mit Kristallen durchtränkt und so rau, dass einen die dickste Hornhaut nicht wirklich schützen kann. Jedoch: bombenfest. Tagsüber ist es mit 27 Grad, trotz ständigen Windes, ziemlich warm. In den Nächten allerdings kühlt es auf 12 Grad ab. Regenzeug haben sie keines dabei. Wieso auch? Daniel Gebel, der 2005 hier kletterte, meinte, darauf könne man getrost verzichten. Als es dann an zwei Tagen wie aus Eimern schüttet, wird er verflucht.
Die kühne Route, die sich Lukas, Wusel, Philipp und Tobias für ihre Erstbegehung ausgespäht haben, entwickelt sich zu einem Sisyphosprojekt. Schwerstarbeit ist angesagt. Ganze acht Tage plagen sie sich in der Wand, verlegen 500 Meter Fixseile, setzen 170 Bohrhaken, bis die Makita Bohrmaschine glüht und am Gipfeltag endgültig der dritte und somit letzte Bohrer bricht.
Im Vergleich zu den anderen Routen in diesem Gebiet, die sie später auch geklettert sind, welche über deutlich bessere Griffe, kleine, bombenfeste Schuppen verfügen, weist ihre Linie viele Sloper, winzige Wölbungen mit Minileisten, auf. Im unteren Teil sind die Seillängen athletisch, senkrecht bis überhängend. Im leicht geneigten bis senkrechten Mittelteil, der sehr technisch ist, haben sie mordsmäßig zu kämpfen. Alleine das Einbohren der Haken bedeutet pure Schinderei. Im oberen Teil schließlich erwarten sie kleine Aufschwünge, über welche dann sehr schwere Einzelzüge zu meistern sind. Die letzten vier Seillängen sind zwar etwas leichter, aber immer noch sehr anspruchsvoll. Wer diese Route punkten will, muss den Bereich 10+/11 – draufhaben.
Von den Schwierigkeiten einmal ganz abgesehen, warten noch weitere Überraschungen in der Wand. Fledermäuse, Moose, Flechten und Kakteen, die, bricht man sie, eine klebrige Flüssigkeit absondern, was mitunter unangenehm werden kann, wenn diese ins Auge geht oder ewig an den Fingern klebt. Außerdem wächst im Einstiegsbereich helles, hohes Gras in dicken Büscheln auf meterlangen Bändern, das aussieht wie die blonde Mähne eines Riesenhaflingers. Bei starkem Wind sieht die Mähnenwelle echt abgefahren aus. Mit etwas Fantasie erwartet man, dass einen daraus gleich ein Monster anspringt.
Die Touristen kommen vornehmlich ins Camp Catta um die Lemuren zu bestaunen. Tiere, die aussehen wie eine Kreuzung aus Affen und Katzen. Es gibt sie nur auf Madagaskar. Abends kommen sie ins Camp um Früchte zu klauen oder delikate Blätter von den Bäumen zu fressen. Putzig sehen sie aus und klettern können sie tierisch gut. Flink und elegant. Einmal, erzählen die Jungs, haben sie einen Lemur dabei beobachtet, wie er lässig einen 7c Boulder geklettert ist. Humor haben die Burschen. Das muss man ihnen lassen. Denn mit jedem Tag, den sie mehr in der Wand verbringen, wachsen auch die Zweifel. Reichen Zeit und Können? Oder muss in dieser Route einer wie Adam Ondra ran?
Obwohl sie sich vom Traum eines freien Durchstiegs durch die Route relativ rasch verabschieden, bleibt die Stimmung bestens. Das Team funktioniert über vier Wochen überaus harmonisch. Nicht zuletzt deshalb, weil Wusel häufig für Partystimmung sorgt. Kurz vor der Abreise hat er nämlich im Baumarkt noch eine kleine Pocket-Musikbox besorgt, aus der gekoppelt an einen MP3 Player zur Belustigung aller, Einheimischen inklusive, gelegentlich auch zünftige Landlermusi schallt. Im Portaledge und zum täglichen Aufwärmen gibt’s natürlich auch Musik.
Ebenfalls immer mit dabei, eh klar, eine bayerische Flagge. Auf den Gipfelfotos allerdings vermisst man sie. Eine Schande, sie wurde im Summitfieber doch glatt vergessen! Dafür packt Tobias ganz oben überraschend zwei Tafeln Schokolade aus. Sie zu horten fiel ihm schwer, doch er blieb standhaft. Nach der endlosen Plackerei und unfreiwilligen Trennkost über Wochen, in denen sie am Ende pausenlos von Burgern, Schnitzeln und Süßigkeiten träumen, ist die Freude grenzenlos. Auch über den Erfolg der Erstbegehung. Die Route wird „Dreams of Youth“ getauft und soll starke Kletterer nach Madagaskar locken, um sie zu befreien.
Es ist alles angerichtet ☺