Nachts im Zelt fühl ich mich wie ein Wurm

Im Buch „Das Höchste“ schildert Roger Repplinger, was Menschen am Mount Everest suchen, finden und verlieren.

Die Nacht auf den 12. April 2010 wird die schlimmste seines Lebens. Er liegt mit rasenden Kopfschmerzen auf einer Luftmatratze in seinem Zelt. Draußen ist es saukalt und windig. Stundenlang nieten ihn die Schmerzen im Schlafsack fest. Sein Darm rebelliert. Er muss mal, ist aber unfähig aufstehen. Der Magen blubbert. Die Zeit drängt. Zwar schafft er es irgendwie ins Toilettenzelt, jedoch der Deckel ist zu. Keine Chance mehr, ihn zu öffnen. Ein einziges Fiasko, das so richtig in die Hose geht.

Im März 2010 brach Roger Repplinger als Mitglied einer kommerziellen Expedition zum 8848 Meter hohen Mount Everest auf. Der in Hamburg lebende gebürtige Stuttgarter ist zwar ein guter Freizeitsportler jedoch kein Bergsteiger. Entsprechend ist sein Ziel das vorgeschobene Basislager, das ABC (Advanced Base Camp). Der Gipfelsieg ist für den 53-jährigen ohne Bedeutung und, rein körperlich, völlig außer Reichweite. Vielmehr interessieren den promovierten Soziologen die Teilnehmer, die ganz nach oben wollen.

Angetrieben von der Frage, was Menschen letztlich dazu bewegt, sich freiwillig in die Todeszone zu begeben, führt Repplinger intensive Interviews mit Bergführern, Hochträgern, Expeditionsleitern und deren zahlenden Kunden. Einfühlsam befragt er im Basislager (5.000 Meter) und im ABC (6.400 Meter) die Bergsteiger nach ihrem Umgang mit Gefahr, den Motiven ihres Ehrgeizes, der Furcht vor dem Tod und der Verantwortung gegenüber ihren Familien und sich selbst. Er erspürt die zum Teil unwillkommenen Einsichten, die sie gewinnen, wenn sie mit ihren Ängsten konfrontiert sind. Er forscht nach ihren Verlusten am Berg und sucht mit ihnen nach Gott. Dabei sind aufrichtige, offenherzige Gespräche über die Grundfragen menschlicher Existenz entstanden.

Ebenso erstaunlich ist, was Repplinger auf dieser Expedition über sich selbst erfährt. In den ersten 150 Seiten, die das Buch besonders lesenswert machen, beschreibt der Autor, was der Berg mit ihm persönlich anstellt. Wie die Kälte an ihm nagt, ihm der Wind nicht nur den Schlaf, sondern phasenweise auch den Verstand raubt. Erbarmungslos ehrlich, rückhaltlos offen, völlig ohne Pathos. Er liefert keine Geschichten von Helden und Hasardeuren vielmehr von Verzicht und Verzagen von Verklärung und Versagen.

Freimütig und packend erzählt, leidet man als Leser mit an Repplingers Seite; man teilt die Kopfschmerzen, ist peinlich berührt, wenn er in die Hose macht, ist solidarisch, wenn er den Wind hasst, den er „Arschloch“ nennt und atmet auf, wenn seine bohrenden Schmerzen endlich nachlassen. Man visualisiert, wie sich die Männer in der Höhe in „ungepflegte Barbaren“ verwandeln und hustend in langen Unterhosen ins Essenszelt zum Frühstück schlurfen, wie der Kopf in der Höhe andere Prioritäten setzt, der sich schließlich auch Routinehandlungen wie Körperpflege, Haare kämmen oder Zelt Aufräumen unterordnen.

So wie der Everest in den Beschreibungen Repplingers „die Menschen absorbiert“, so absorbiert das Buch die Leser. Kurze Lesepausen gönnt man sich nur dann, wenn die Sätze – wie auf Seite 123 – so stark werden, dass man innehalten muss:

Ich erfahre hier ein paar Dinge über mich, die ich ahnte, aber nicht so genau wissen wollte. Wenn ich nachts im Zelt liege und der Sturm tobt, dann fühle ich mich wie ein Wurm. Ich war noch nie so weit weg von dem, was ich sein will und wie ich gerne wäre, und so nahe an dem, wie ich nicht sein will und was an mir verabscheue. Der Unterschied zerreißt mich, ich bekomme diese beiden Hälften nicht zusammen.

Die Glückseligkeit eines erfolgreichen Gipfelgängers versteht sich am Ende als ein großer Triumph über sich selbst. „Weil man am Berg mit dem Rücken zur Wand steht, müssen Antworten auf Fragen gefunden werden, denen man sonst ausweicht. Und nur wer schon ein paar Antworten hat, kommt schließlich auch nach oben“, resümiert Repplinger sein 300 Seiten starkes Buch, das viel mehr ist als eine reine Bergsteigerlektüre.

Roger Repplinger
Das Höchste
Was Menschen am Everest suchen, finden und verlieren
300 Seiten, 13 Abbildungen, Hardcover mit Schutzumschlag
€ 19,90, Ludwig Verlag

Info extra

Welche Faszination vom höchsten Berg der Erde seit der Erstbesteigung im Jahr 1953 durch Edmund Hillary und Tenzing Norgay ausgeht, verdeutlicht eine Zahl: Alleine am 22.5. 2003 standen 116 Menschen auf dem Gipfel des Mount Everest! Auf der Internetseite www.8000ers.com sind 216 Verunglückte namentlich gelistet, deren Leichen zum Teil den Weg zum Gipfel säumen. Am 11. Mai 1996 kam es zur bisher größten Tragödie am Mount Everest: Nach einem Wetterumsturz starben 12 Menschen unmittelbar im Auf- und Abstieg bzw. an den Folgen der Strapazen.