Prinzip Abgrund
Alleine im Jahr 2009 sind ihm etliche alpine Highlights gelungen. Die Erstbegehung des weltweit längsten Eisfalles im norwegischen Gudvangen durch die Route Fosslimonster etwa oder der erste freie Durchstieg der Japaner Direttissima in der Eigernordwand. Auch in Patagonien eröffnete Schaeli am formschönen Nachbarn des Cerro Fitz Roy, dem Aguia Poincenot mit Fühle dich stark aber nicht unsterblich erst kürzlich eine neue Route. Seine abenteuerliche Expedition nach Ostgrönland im Sommer 2010 bezeichnet er allerdings als den Höhepunkt in seinem bisherigen Bergsteigerleben.
Eine Reise ins Ungewisse. Ans Ende der Welt. Eine Expedition mit starken Partnern. Zwei Schweizer, ein Österreicher und ein Italiener bilden das Team am Berg. Im Basecamp sorgt ein weiterer Schweizer, Jost von Allmen, für funktionierende Technik und die Kommunikation mit der Außenwelt.
Der „Alpen-Adria-Express“ nimmt Kurs auf Grönland
Der Südtiroler Simon Gietl war wie so oft mit Roger Schaeli unterwegs. Die beiden Freunde verfolgen ähnlich ambitionierte Ziele. Der Österreicher Daniel Kopp, Teamkollege bei Salewa, war ebenfalls von der Idee begeistert, etwas Ungewöhnliches zu wagen. Als Fotograf begleitete der Eidgenosse Thomas Ulrich die drei Kletterer nach Ostgrönland. Er war es, der auf einer früheren Reise den gigantischen Granitturm entdeckt und folglich die Expedition initiiert hat.
Entbehrung ist der wahre Luxus
Ein paar bunte Zelte stehen am Wandfuß. Abgeschieden. Einsam. Ausgesetzt. Gewehre haben sie dabei, falls Eisbären kommen. Ein Satellitentelefon für den Extremfall. Ohne Ende gefriergetrocknete Nahrung in Beuteln und tonnenweise Ausrüstung. Ob das Wetter mitmacht? Ob der Berg eine Besteigung erlaubt? Welche Gefahren lauern in der Wand? Wird es Steinschlag geben? Was es sicher nicht gibt, sind eine Dusche oder feines Essen wie bei Muttern. Womit sie rechnen? In erster Linie mit Entbehrung. Aber letztendlich, darin sind sich alle einig, ist das der wahre Luxus. Eine große Herausforderung haben sie bereits hinter sich.
Die strapaziöse Anreise
Über Island flogen Sie in die Arktis. Nach einem Zwischenstopp landeten sie in Constable Point, einem Flughafen an der Küste zur Eiswüste Grönlands. Ein, zwei Hangar gibt es dort. Ein paar Häuser. Sonst nichts. Circa 10 Menschen arbeiten in der Isolation, denn die nächste Siedlung, Ittoqqortoormiit, ist über 45 Kilometer entfernt. In zwei 60 PS starken Zodiac-Schlauchbooten ging es – nicht ganz ohne Komplikationen – erst einmal 125 Kilometer auf dem Meer in Richtung Berg. Das eine oder andere Mal haarscharf an kalbenden Eisbergen vorbei. Fünf Männer plus circa 500 Kilogramm Gepäck. Und reichlich Treibstoff in Kanistern. Eine noch viel größere Herausforderung haben sie jetzt unmittelbar vor ihren Augen: Die Wand. Senkrecht ragt sie in den Himmel. Eleganter und anmutiger als sie zu träumen wagten. Die Felsstruktur ist weniger schlimm als befürchtet. Zumindest auf den ersten Blick. Es kribbelt in den Fingern. Das sind die Momente, für die sie leben. Das ist es, was sie in der Ferne suchen.
Passion Bergsteigen
Roger Schaeli sportelt seit er denken kann. Sein Vater ließ ihn die Liebe zur Natur entdecken. In seiner Schweizer Heimat Sörenberg fuhr er als Kind und Jugendlicher Ski im Winter und kraxelte im Sommer in den Bergen. Über die Jahre war die Passion Bergsteigen aber deutlich größer als die Lust an Skirennen teilzunehmen. Heute gehört Schaeli zu den großen Allroundern in der alpinen Szene. Er mag – in höchsten Schwierigkeitsgraden – Fels ebenso wie Eis. Das viele Training fällt ihm leicht, weil es sein Hobby ist. Schaut man dem 32-jährigen beim Üben in der Halle zu, funktionieren Arme, Beine und Körper wie ein Schweizer Uhrwerk. Einem Gecko gleich klettert er nach oben. Leicht und ästhetisch sieht es aus, wenn er sich in der Wand bewegt. Über sich selbst sagt er: „Nicht nur mein Körper, auch meine Psyche ist die letzten Jahre stärker geworden. Ich kann heute deutlich mehr an meine Grenze gehen als etwa noch vor fünf Jahren.“
Eine kräftezehrende Plackerei
Starke Nerven sind eine Voraussetzung wenn man in hohen, unbekannten Wänden klettern will. Ein Vorteil, wenn man sich in die totale Exposition begibt. Ein Schlüssel zum Erfolg, wenn man sich die Schinderei einer Erstbegehung antut. Denn die Wand, die sich vor den Männern auftürmt, ist jungfräulich und somit blank. Sie werden keinen hilfreichen Haken von einer früheren Expedition dort finden, denn sie sind die ersten, die sich dort versuchen.
Was das bedeutet? Mühsames Vorklettern, mobile Sicherungen setzen, Ideallinie suchen, Haken bohren für die Standplätze und ganz nebenbei circa 250 Kilogramm Material und Lebensmittel in so genannten Haulbags durch die Senkrechte nach oben hieven. Das Ganze abwechselnd und mehrere Tage lang. Eine kräftezehrende Plackerei. Ab einem gewissen Punkt, den man in der Wand erreicht, steigt man nicht mehr ins Basislager ab, sondern verbringt auch die Nächte in der Vertikalen. Dazu braucht es Portaledges, mobile Hängezelte also, die man über Haken in der Wand fixiert. Ein ungewöhnlicher und luftiger Campingplatz, aber die einzige Möglichkeit sich wenigstens ein paar Stunden von den Strapazen des Risskletterns in höchsten Schwierigkeitsgraden zu erholen.
Geburtstagsfest und Gipfelglück
Ein extrem abgefahrener Ort auch, um seinen 32. Geburtstag zu zelebrieren. Roger Schaeli „feierte“ mit eigens von zu Hause mitgebrachter Sprüngli Schokolade mehrere hundert Meter über dem Abgrund. Das größte Geschenk aber war der Gipfel, welchen Schaeli und Kollegen am 6. August 2010 erreichten. Nach 5 Tagen und Schwierigkeiten bis zu IX- in der Wand. Nach 40 Seillängen in freier Kletterei. D.h. das Seil diente nur der Sicherung, nicht aber der Fortbewegung. Geklettert wurde aus eigener Kraft an der natürlichen Oberfläche des Felsen. Sturzfrei und ohne Rasten im Seil.
Auf dem rund vier Quadratmeter großen Gipfelplateau gab es kaum Platz um entspannt zu rasten, aber dafür reichlich Raum für Emotionen. Nicht nur Roger Schaeli ist begeistert. Auch der Zillertaler Daniel Kopp kann sein Glück kaum fassen: „Ein riesiger Granitturm inmitten einer atemberaubenden, majestätischen, unberührten Landschaft aus Bergen, Eis und Meer. Und ganz oben: wir! Aus unserer Perspektive sahen die Eisberge aus wie Würfelzuckerstückchen, die im Wasser schwimmen.“ Auch Simon Gietl ist aus dem Häuschen: „Es war wie im Märchen, weshalb wir die Route auch ‚Eventyr’ tauften, was auf Dänisch Märchen bzw. Abenteuer heißt.“
Welches Glück die Bergsteiger hatten, wurde ihnen beim Abseilen bewusst. Das Wetter verschlechterte sich schlagartig. Steinschlag donnerte auf die Männer ein als ob der Berg laut Schaeli sagen wollte „dass wir schleunigst von hier verschwinden sollten. Wir hatten unseren einsamen Berg, den Grundtvigskirken, reichlich strapaziert. Seine Geduld mit uns war offensichtlich zu Ende.“
Lob von Reinhold Messner
Für den Erfolg der Seilschaft gab es anschließend Lob von allerhöchster Stelle. Kein geringerer als Reinhold Messner urteilte: „Ich freue mich immer, wenn junge Kletterer neue Spielfelder finden und dort ihre Talente ausschöpfen. Schaeli, Gietl und Kopp waren nach dem ‚Prinzip Abgrund’ unterwegs und das gefällt mir. Ihre gekletterte Line und die Länge der Tour in Ostgrönland – weit weg von der Zivilisation – sind eindrucksvoll.“