Reise zu einem toten Freund
Arwa Spire, Indien
Mai 2011
Roger Schäli
Simon und ich kommen nach einem langen anstrengenden Klettertag gerade vom Berg zurück und freuen uns auf eine warme Suppe. Völlig aufgelöst stürmt unser Koch Suraj auf uns zu. Schrecklich die Nachricht: Unser Kameramann Daniel hat im Aufstieg vor ihm eine Abkürzung nehmen wollen und verließ die Spur. Keine 30 Meter von Suraj entfernt stürzte Daniel in eine Spalte.
Um Gottes Willen! Sekundenkurze Panik. Schock. Verzweiflung. Hoffnung. Klaren Kopf bewahren! Zuversicht! Daniel, wir holen dich da raus! Nur leicht verletzt. Ganz sicher!
Wir starteten sofort. In der Dämmerung. Mit Rettungsschlitten, warmen Getränken und Sauerstoff. Normaler Weise braucht es sieben Stunden bis an die Unfallstelle. In dreieinhalb Stunden stehen Simon und ich an der Spalte. Ich seile als erster ab. Meine Rufe nach Daniel verhallen in der Tiefe. Keine Antwort. Kein Klopfzeichen. Keine Spur von ihm. Gähnende Leere. Stockfinster. Ein ungeheueres Labyrinth aus Eis. Grausam. Einfach fürchterlich. Verkeilte, ziemlich lose Eisblöcke über mir. Überhängende Spaltendecken. Riesige Eisschuppen, die nur darauf warten abzubrechen.
Verdammt gefährlich. Nicht daran denken! Ausblenden, funktionieren, einfach weitermachen! Wir müssen tiefer, tiefer, immer tiefer.
Viele Stunden später: Kopfschmerzen, Hunger, Durst, völlige Erschöpfung. Im Morgengrauen pausieren wir. Kurzer, unruhiger Schlaf. Weitermachen! Wir holen Daniel da raus! Sicher! Ich fürchte um mein eigenes Leben hier unten. Ich habe Angst. Wir alle haben Angst.
Fünf Tage suchen wir. Tief, tief unten finden wir schließlich ein Stück von Daniels Stock. Letzte Hoffnung.
Ich entferne weitere Eisblöcke. Darunter? Ein endloser Schlund. Meine Stirnlampe kann keinen Grund ausmachen. Herunterfallende Eisstücke – ich höre sie nicht auf dem Grund aufschlagen. Schrecklich. Das ist die Hölle hier! Blanke Angst sitzt mir in den Knochen.
Hoffnungslos. Aussichtslos. Kein weiteres Leben riskieren!
Der bitterste Moment meines Lebens: Abbruch der Suche. Abbruch der Expedition. Wir müssen ohne Daniel nach Hause. Der Tiefpunkt meines Lebens. Der Tiefpunkt meiner Karriere als Bergsteiger ist erreicht. Jemand hat auf unserer Expedition sein Leben verloren. Schlimmer hätte es nicht kommen können.
Nürnberg
Mai 2011
Frank Kretschmann, Fotograf, Kameramann
Mein Handy klingelt. Ein Anruf aus Bozen. Salewa-Teamleiter Reiner Gerstner ist dran. Er hat ständig direkten Kontakt zu Roger im Basecamp. Daniel wird vermisst. Das kann nicht wahr sein! Das darf nicht wahr sein!
Daniel habe ich vor gut zwei Jahren in Thailand kennen gelernt. Wir waren uns auf Anhieb sympathisch. Wir sind Freunde, Brüder im Geiste, auf einer Wellenlänge. Das Klettern und die Arbeit verbinden uns. Ursprünglich wurde ich als Kameramann für diese Expedition angefragt. Ich hatte keine Zeit und fragte Daniel, weil ich wusste, dass es sein Traum war, eine Kletterexpedition zu begleiten, einen Film darüber zu drehen.
Er ist begeistert und sagt sofort zu.
Nun ist Daniel verschollen. Er kommt nicht mehr nach Hause. Auch nicht sein Körper. Natürlich bin ich nicht an seinem Tod Schuld. Ich fühle mich dennoch irgendwie verantwortlich.
Schuld? Schicksal? Karma? Quälende Tage folgen. Zusammenbruch.
Mein Freund ist nicht mehr da. Er trat seine letzte Reise an meiner Stelle an. Ich fahre zu Daniels Eltern nach Hamburg. Buddhistische Abschiedszeremonie. Auch Daniels Freunde sind da. Zum Teil aus der ganzen Welt angereist. Ein Märchen wird vorgelesen. Eine Meditation folgt. Ein Mikrofon wird herumgereicht. Jeder kann sagen, was er auf dem Herzen hat. Bei aller Trauer, diese Zeremonie ist auch schön. Nach dem Treffen mit Daniels Mutter und Vater geht es mir, uns allen, etwas besser. Ein Handschlag, ein Augenblick, eine Umarmung. Tiefe Trauer. Keine Vorwürfe. Daniels Eltern sind außergewöhnliche, höchst spirituelle Menschen. Die Begegnung mit ihnen ist uns eine große Hilfe. Daniels Mutter überrascht und schockiert mich mit der Aussage: „Als ich mich vor der Expedition von meinem Sohn verabschiedete, ahnte ich, dass er nicht mehr zurück kommt. Ich wusste, dass mein Sohn vor mir stirbt.“
International Mountain Summit
Oktober 2011
Simon Gietl
Das Leben geht weiter. Es geht weiter, weil es weitergehen muss.
Termine, Vorträge, . . .
Mein erster großer Auftritt vor internationalem Publikum. Mein erster großer Auftritt zu Hause in Südtirol. Mein erster großer Auftritt in der Öffentlichkeit nach der Tragödie. 600 Personen im Saal. Roger neben mir auf der Bühne. Ich erzähle von meinen Abenteuern, meinen Erfolgen, meiner Leidenschaft, meiner Freundschaft zu meinem Seilpartner Roger. Ich werde auch vom Arwa Spire sprechen. Natürlich auch von Daniel. Diese Tragödie gehört jetzt zu unserem Leben. Ich zeige ein paar Bilder aus Indien. Komm schon Simon, weiter sprechen! 600 Menschen warten auf eine Antwort, eine Schilderung. Es geht nicht. Ich kann nicht weiter sprechen. Kein Wort bekomme ich mehr heraus.
Jetzt bloß will nicht weinen! Trotzdem Tränen. Ich kann sie nicht aufhalten, drehe mich weg. Roger übernimmt und setzt den Vortrag fort.
Ich habe dieses Drama noch nicht verarbeitet. Ich meinte, die Situation im Griff zu haben. Das Gegenteil ist der Fall. Die Tragödie hat mich und mein Leben im Griff.
Ob die Zeit das heilen wird?
Nepal
Oktober 2011
Frank Kretschmann
Auf meiner Reise nach Nepal kommt es zu einer zwar flüchtigen, aber zugleich intensiven Begegnung mit einer tibetanischen Frau, die meinen Weg kreuzt. Wir unterhalten uns. Ich frage nach der Bedeutung des Schriftzuges auf dem Medaillons, das sie um den Hals trägt.
OM MANI PADME HUM.
Fassungslos! Das kann kein Zufall sein. Dieses Mantra wurde auf Daniel Abschiedsfeier gesungen! Die Frau nimmt das Medaillon unvermittelt ab und schenkt es mir.
Daniel, das ist für dich! Ich werde das Medaillon deinem Vater schenken. Da gehört es hin. Oder – sollte ich jemals zum Arwa Spire kommen – auf den Gipfel. Es ist dein Medaillon!
Frühjahr 2012
Roger, Simon und Frank
Es vergeht kein Tag, an dem wir nicht irgendwann an Daniel denken. Ob diese Gedanken jemals aufhören? Das Bedürfnis zurückzukehren beginnt in uns zu wachsen.
Den Gipfel des Arwa Spire in freier Kletterei zu erreichen war vor einem Jahr unser Ziel. Daniel wollte es mit seiner Kamera dokumentieren. Ob wir das Vorhaben zu Ende bringen sollten? Für Daniel? Lange Gespräche folgen.
Es zieht uns förmlich an den Unglücksort. Ja, das ist unser Weg! Nicht warten, bis „es“ besser wird, bis die Zeit „es“ heilt. Wir beschließen wieder nach Indien zu reisen.
Auch Frank möchte dieses Mal unbedingt dabei sein.
Der Gipfel steht dieses Mal völlig im Hintergrund. Hauptsache: Rückkehr, Abschied nehmen, sich der Situation noch einmal stellen, Daniel nahe sein. Gedenkstätte bauen. Einen Film drehen. Den Film, den Daniel ursprünglich gestalten wollte, in seinem Sinne vollenden. Abschließen.
Dieses Mal reisen wir, um zu verarbeiten, um etwas zu Ende zu bringen, um Ruhe in uns zu finden. Nicht, um zu vergessen. Das werden wir nie.
Arwa Spire
September 2012
Roger Schäli
Kameramann Frank Kretschmann und Bergführer Andrea di Donato sind mit von der Partie und bilden ein Team am Berg. Simon und ich werden erneut versuchen den Gipfel des Arwa Spire in freier Kletterei zu erreichen. Meine Freundin Yuri begleitet uns bis ins Basecamp. Wie froh ich bin, dass sie da ist.
Wir bauen eine Gedenkstätte. Frank meißelt in tagelanger Arbeit Daniels Namen in den Grabstein. Immer wieder sitzen wir davor und gehen in uns. Zwiegespräche mit Daniel. Tränen. Gebete. Aber: In der Stille und Abgeschiedenheit finden wir Frieden. Und vor allem unser Lachen wieder. Es wird eine der schönsten Expeditionen überhaupt. Sehr harmonisch und emotional. Wir sind uns nahe. Wir sind Daniel nahe.
Das Medaillon, welches Frank mit sich trägt, übergibt er mir vor dem endgültigen Aufbruch zum Gipfel. Simon und ich hängen es am Nachmittag des 28. September 2012 in die Gipfelschlinge. Diese kleine, an sich unbedeutende Handlung erfüllt uns mit Zu-Frieden-heit. Es fühlt sich gut an. Es ist, als hätte uns Daniel seinen Segen gegeben.
Arwa Spire
September 2012
Suraj, Koch
Ich bin zum dritten Mal mit Roger am Arwa Spire. Bereits 2002 habe ich hier für ihn gekocht. Auch 2011 war ich in Rogers Team. Ich war mit Daniel auf dem Weg ins ABC, als er keine 30 Meter von mir entfernt plötzlich in einer Gletscherspalte verschwand. Seit über 15 Jahren arbeite ich als Expeditionskoch hier in der Region. Es ist dies meine erste Erfahrung mit dem Tod bei meiner Arbeit. Die Tatsache, dass ich der letzte Mensch bin, der Daniel lebend gesehen hat, dass ich jener Mensch bin, der Daniel quasi in den Tod begleitet hat, macht mir zu schaffen. Es ist mir unheimlich wichtig, jetzt erneut dabei zu sein.
_Auf dem Gipfel des Arwa Spire
- September 2012
Simon_
Bisher bin ich immer mit jemandem auf einem Gipfel gestanden. Dieses Mal ist das anders. Wir stehen für jemanden auf dem Gipfel. Auf den Fotos sind wir ein Zweierteam. Aber im Herzen stehen wir hier zu dritt.