There is a star above me.
Philippe Ribière wird am 12. März 1977 auf Martinique geboren. Das Schicksal meint es alles andere als gut mit ihm. Er ist – wie er viele Jahre später erfahren wird – das Ergebnis einer verbotenen Liebe zwischen seiner damals 26-jährigen Mutter und seinem Vater, der zum Zeitpunkt seiner Geburt längst mit einer anderen Frau verheiratet war. Philippes Mutter ist Jüdin. Hautfarbe: weiß. Sein Vater ist Schwarzer. Philippe selbst wird mit dem Rubinstein-Taybi Syndrom (RTS) geboren. Seine Arme sind deformiert. Bei der Geburt hat er zwölf Finger. Seine Zehen stehen krumm. Der Abstand zwischen seinen Augen ist auffallend groß. Die ersten Lebensjahre pendelt Philippe zwischen zwei ausgesprochen traurigen Orten: Waisenheim und Krankenhaus. Unzählige Operationen prägen seine ersten Lebensjahre. Vier Jahre ist er alt als ihn Adoptiveltern nach Frankreich holen.
Heute lebt der 36-Jährige als Profikletterer. Seit 2002 gehört er dem Petzl Pro Team an. Behinderte Kletterer sind in der öffentlichen Wahrnehmung ein aufsehenerregender Widerspruch in sich, auch wenn bei Paralympics mittlerweile etliche Höchstleistungen vollbracht werden, von denen die meisten Nichtbehinderten nur träumen können. Die große Aufmerksamkeit, die auch Philippe Ribière zuteil wird, ist aber auch in der Gelassenheit und Selbstverständlichkeit begründet, mit der sein Schicksal ganz offensichtlich angenommen hat.
_Hi Philippe, I would like to do a feature with you for a climbing magazine. Please contact me!
Nice. Ok for the interview. I am in Macedonia right now for some lectures. Busy. We should skype. When?
Eigentlich müsste ich mich auf der Stelle ins Auto setzen und ihn in Mazedonien besuchen, mir einen seiner Vorträge anhören und danach mit ihm reden. Geht nicht. Habe mich böse beim Skifahren verletzt. Sechs Wochen Liegegips. Gehen? Nur mit Krücken. Autofahren keine Chance. Also lese ich alles, was ich im Internet an Infos über ihn finde, schaue mir sämtliche Videoclips an, die verfügbar sind und bin beeindruckt. Und neugierig. Und sehr unsicher. Wie soll ich ihm begegnen? Darf ich ihn auf sein Äußeres ansprechen? Kann ich ihm überhaupt gerecht werden? Wie verpacke ich meine Fragen richtig?
Um ehrlich zu sein, schiebe ich das Gespräch auf die lange Bank.
Einige Tage später. Mein Handy klingelt. Unbekannter Teilnehmer: It’s me, Philippe. We should skype now. Ok for you?
Jetzt??? Hilfe!!!
Ok, Philippe, give me five minutes please!
Ohne vorbereitete Interviewfragen in so ein schwieriges Gespräch? Ich humple ins Badezimmer. Schnell ein bissal aufgehübscht. Jetzt muss ich grinsen. Zum ersten Mal freue ich mich über meine Eitelkeit, weil ich sie ihm entgegenbringe. Ihm, der jedem Schönheitsideal widerspricht.
Ob er die Kamera anmacht? ... Es klingelt. Ich nehme an. Natürlich zeigt er sich. Er grinst über das ganze Gesicht, lehnt sich gemütlich zurück und verschränkt die Arme. Ganz offensichtlich sitzt er in einem Bus.
Das ist mein Zuhause. Hier lebe ich. I am a gipsy.“ Obwohl: eine feste Adresse in Frankreich gibt es auch. Dort ist er selten. Nur, um dann und wann den Briefkasten zu leeren.
Philippes Lachen ist herzlich. Meine Unsicherheit schwindet. Nachdem ich ihm erkläre, dass ich keine gezielten Fragen vorbereitet habe, sagt er: „Egal, lass uns einfach ein wenig plaudern.
Wo sein Bus gerade steht? In Trient. Philippes Film „Wild One“ wird dort gerade auf dem Filmfest gezeigt. „Vielleicht bekomme ich ja gleich einen Anruf vom Direktor, dass mein Film gewonnen hat“ sagt er lachend und warnt mich schon einmal vor, dass er das Gespräch dann sofort beenden müsste, um zu feiern.
Dann will er einiges von mir wissen: Wo ich lebe, wie alt ich bin und ob ich noch Single wäre.
Ich bin viel zu alt für dich, Philippe!
Da lacht er laut, klopft sich auf die Oberschenkel und kommt näher an die Kamera heran, als würde er mich etwas genauer unter die Lupe nehmen wollen. Ich lache auch. Das Geplänkel mit ihm macht Spaß.
Selbstbewusst ist er und überaus humorvoll. Plötzlich switched er auf „ernst“. Er zeige sich Frauen gegenüber immer flirty. Das hilft vor allem am Anfang, die Berührungsängste auf der anderen Seite abzubauen. In der Tat, das ist gelungen. Er baut –via Skype – sogar Nähe auf. Ich habe das Gefühl mit ihm an einem Tisch zu sitzen und fühle mich überaus wohl in seiner Gesellschaft.
Im Hintergrund sehe ich eine Matratze, dicke Decken und einen Schlafsack. „Italien ist auch nicht mehr das, was es war“ sagt er grinsend und fährt fort „Ende April, 14 Uhr, 7 Grad.“
Wir unterhalten uns auf Englisch. Mein Französisch ist zu schlecht. Deutsch kann er auch, sagt er stolz und legt los: „Dankeschön, Bitteschön, Ja, Nein, das ist super!“
Ob er glücklich sei mit seinem Leben?
Ja, obwohl Glück ist ein großes Wort. Nennen wir es so: Ich kann mich nicht beschweren. Ich bin ein freier Mensch, kann tun und lassen, was ich will, muss mich nicht verbiegen. Ich bin zufrieden.
Auf seinem Kapuzenshirt unübersehbar der Schriftzug eines Sponsor: The North Face. Einer von mehreren wie ich erfahre. Und dann zählt er alle auf: Petzl, La Sportiva, Julbo und einige andere, deren Namen ich nicht behalten habe, unterstützen ihn, weil sie sich offensichtlich mit seinem Image, seinem Lebensstil und – wie er selbst sagt – mit seiner Philosophie identifizieren.
Die da wäre?
Jetzt fallen reihenweise starke Sätze:
„Jeder Mensch ist einzigartig.“
„In jedem Menschen liegt etwas Wunderschönes, Liebenswertes.“
„Alles im Leben ist eine Frage der Wahrnehmung.“
„Ich habe über das Klettern gelernt meinen behinderten Körper gut zu bewegen.“ „Ich zeige meinen deformierten Körper offen.“
Eine Art Selbsttherapie – ausgelöst durch das Klettern – hat Philippe aus der Einsamkeit und Abgeschiedenheit geholt, in die er als Kind über viele Jahre versunken war. Natürlich wurde er gehänselt oder – schlimmer – bloß angestarrt und über viele Jahre ausgegrenzt. Richtig grausam aber war: Das Wegschauen! Zu gut kann er sich an unschöne Situationen erinnern. Einmal, er war sechs Jahre alt, hat ihn im Supermarkt ein kleiner Junge verschreckt und neugierig zugleich angesprochen. Dessen Mutter packte ihn sogleich am Ärmel, zog ihn weg und sagte harsch: „Schau’ ihn nicht an! Sprich’ nicht mit ihm!“
Über das Klettern hat er sich einen Stellenwert in der Gesellschaft erkämpft. Er gehört dazu, fühlt sich nicht mehr isoliert oder an den Rand gedrängt. Seine eigene Scheu musste er dabei anfangs freilich überwinden. Heute falle es ihm aber nicht mehr schwer auf die Bühne zu treten, Vorträge vor großem Publikum zu halten oder sich in einem Film zu zeigen. Im Gegenteil:
Ich ernte Respekt und Anerkennung, finde große Befriedigung, in dem was ich tue.
Seine Behinderung bezeichnet er gerne als seine Arbeitskleidung, eine Art Kostüm. Manchmal sei seine Behinderung auch ein Schutz. Gelegentlich setzt er sie auch als Waffe ein.
Im Laufe des einstündigen Gespräches fallen so viele gute Sätze, dass ich nach unserer Unterhaltung in Stille und Nachdenklichkeit versinke.
Ich will niemanden sehen, mit niemandem sprechen, muss alles wirken lassen. Ich fühle mich klein. Wie ein Würstchen. Unbedeutend im Vergleich zu ihm.
Vor ein paar Jahren, auf einer Reise durch Japan hat er einen Arzt kennen gelernt. Der wollte ihn zu einer weiteren Operation überreden. Man könne da noch einiges verbessern und verschönern. Ribière hat sich mit Gedanken dieser Art nicht lange aufgehalten, denn:
Dieser Arzt wollte eine Art Robocop aus mir machen, meine Gliedmaßen verlängern. Und mein Gesicht verändern. Damit ich für die anderen schöner anzuschauen bin. Um mich als Mensch geht es doch dabei gar nicht. Ich habe das Angebot abgelehnt.
Irgendwo findet er es auch paradox, dass er heute als Profisportler leben kann.
Streng genommen verdiene ich Geld mit meiner Behinderung. Insofern ist sie mein größter Schatz. Aber erst seit ich sehr offensiv mit ihr umgehe.
Ribière versteckt sich nicht. Nicht mehr!
Angefangen hat das mit dem Klettern zufällig. Denn eigentlich fand er als Jugendlicher große Freude am Rennradfahren und wollten einem Radclub beitreten. Seine Aufnahme wurde ohne Angabe von Gründen abgelehnt. Er tritt einer Klettergruppe bei. Zwei Jahre später steht er im Finale der französischen Jugendmeisterschaften. Als einziger Behinderter unter Nichtbehinderten.
Das Klettern hat mein Selbstvertrauen gestärkt, die Sicherheit meiner Arme und Beine verbessert, mir Freude an der Bewegung geschenkt und meinem Leben so gesehen Sinn gegeben.
Heute hat er sich dem Sportklettern und Bouldern verschrieben.
Seine Facebook Seite ist bestens gepflegt, wird regelmäßig aktualisiert. Er scheint sehr kreativ zu sein. Viele Clips, starke Fotos – alles selbstgemacht.
Ich liebe Musik, bin auch DJ. Fotografie ist eine echte Passion von mir geworden. Ich möchte das Unsichtbare sichtbar machen.
Ich staune. Denn im Gespräch gelingt es ihm, dass Sichtbare, die Behinderung, unsichtbar zu machen. Ich nehme sie nicht mehr wahr.
Sie existiert nicht mehr für mich. Ich sehe anderes, sehr Schönes. Ein einnehmendes Lachen, die viele Energie, die seinen Körper keine zwei Minuten still sitzen lässt, das wilde Gestikulieren, mit dem er unterstreicht, wenn ihm etwas wirklich wichtig ist. Ich spüre Wachsamkeit und Präsenz. Und ich verliebe mich in seinen Humor.
„I will kill you, if you write something wrong about me“, droht er mir. Ich überlege, wie wir das lösen könnten. Wer kann den deutschen Text kurz überfliegen und die Fakten checken?
Ganz einfach: „I will ask Anna Stöhr or Kilian to read it!“
In der Kletterszene ist er längst etabliert. Er gehört dazu. Mit Anna Stöhr, Kilian Fischuber, Chris Sharma, Adam Ondra, Dani Andrada, Markus Bock, Lynn Hill, Tomas Mrazek, Natalija Gros, Fred Nicole, Dave Graham und vielen anderen ist er bereits geklettert.
Während seiner „Evolution Tour“ zog er ein Jahr lang von einem Klettergebiet zum nächsten, traf sich mit den Stars der Szene, hielt Vorträge, organisierte Events und machte auf die von ihm gegründete Organisation „Handi-grimpe“ aufmerksam. Ein Verein, der sich der Inklusion behinderter Kletterer verschrieben hat.
Ein zentrales Thema nimmt seit einigen Jahren die Suche nach seinen leiblichen Eltern ein.
Ich will einfach wissen, wo ich herkomme, warum man mich abgeschoben hat und vor allem wieso ich dieses Gesicht habe.
Und so reist er vor einigen Jahren nach Martinique, um nach seinen Wurzeln zu forschen. Im Waisenhaus, in dem er aufwuchs, hält er einen Vortrag. Es gibt dort tatsächlich Menschen, die sich nach 33 Jahren noch an ihn erinnern. Nach seiner Rede steckt ihm eine Frau einen Zettel mit einer Telefonnummer zu. Als er die Nummer wählt, ahnt er noch nicht, dass er mit seiner Tante väterlicherseits spricht.
Sie erzählt ihm viel.
Schönes und Trauriges.
Sein Vater sei kürzlich verstorben. Ribière kommt also zu spät. Aber er erfährt, dass ihn sein leiblicher Vater über zehn Jahre lang gesucht hat. Er fuhr dafür quer durch Frankreich. Ohne Erfolg. Sein Vater hat am Sterbebett gesagt: „Ich gehe ohne meinen Sohn wiedergesehen zu haben.“
Seine leibliche Mutter lässt Ribière gerade über einen Privatdetektiv auf Martinique suchen. Was er jetzt schon weiß: Philippes Mutter arbeitete während ihres Medizinstudiums in einem Krankenhaus. Sie nimmt in jungen Jahren Antidepressiva, um mit dem harten Leben besser klar zu kommen. Auch noch zum Beginn der Schwangerschaft. Sie wusste nicht, dass sie ein Baby erwartet. Als Philippe zur Welt kommt, schämt sich die Familie für ihn: ein behindertes Kind aus einer verbotenen Beziehung zwischen einer weißen Frau und einem verheirateten schwarzen Mann. Das ist zuviel. Philippe wird ein hartes Schicksal zuteil. Er wird ins Waisenhaus abgeschoben. 1981 bringt ihn ein Flieger nach Frankreich. 4-jährig steht Philippe am Airport plötzlich seiner neuen Familie gegenüber. Seine Adoptiveltern haben 3 eigene und insgesamt 4 Adoptivkinder. Zu einer Schwester aus dieser Familie pflegt er bis heute engen Kontakt. Zu allen anderen hat er ihn abgebrochen:
Ich habe nie ein ernsthaftes Feedback erhalten.
Er grinst wieder von einem Ohr zum anderen und sagt: „Aber meine Schwester hat mir erzählt, dass meine Adoptivmutter alle zwei, drei Tage ins Internet geht und meinen Blog liest. „Scheinbar interessieren sie sich doch für mich.“
Dann gerät er ins Philosophieren.
_Weißt du, ich habe auch ohne Familie sehr viel Liebe im Leben gefunden. Die Menschen da draußen, sie mögen mich einfach.
Ich bin anders. Mein Körper ist nicht perfekt. Aber auch in der Natur gibt es keine Perfektion, oder?
Ich kann mit und von meiner Behinderung leben. Über mir ist ein leuchtender Stern. Er begleitet mich durch mein Leben._
Als ich mich von ihm verabschiede, ruft er: „Eins noch. Mein leiblicher Vater war leidenschaftlicher Sänger. Und meine biologische Mutter eine passionierte Windsurferin. Sie haben mir doch einiges in die Wiege gelegt. Die Gene, sie sind schon verrückt.“
PS.: Apropos „verrückte Gene“: Ein verändertes Chromosom 16 ist die Ursache für Rubinstein-Taybi Syndrom. Die Wahrscheinlichkeit an RTS zu erkranken beträgt 1 : 120.000.
PPS.: Kilian Fischhuber über Philippe Ribière:
I'll keep my toes crossed for you, Kilian" bringt mich immer aufs Neue in Verlegenheit, aber auch zum Schmunzeln. Philippes Zehen sind für immer gekreuzt, weil sie zusammengewachsen sind, was ihm vor allem in Kletterschuhen Schwierigkeiten bereitet. Ich kann jedem, der Philippe nicht kennt, nur raten, sich seinen Film anzuschauen. Es lohnt sich!