Die Sandmänner

Explosionsartig hechtet er beim Baggern nach vorne und kommt durchgestreckt im tiefen Sand zu Fall. Sein Kollege, im Sprint zur Stelle, pritscht den Ball steil in die Luft. Und ehe dieser absinkt, ist der Gefallene wieder auf den Beinen, schnellt am Netz empor und schmettert den Ball mit voller Wucht ins gegnerische Feld. Punktgewinn. Es folgt ein Handschlag. Ein deutsches Pärchen, das auf einem Strandspaziergang den Court passiert, erkennt die beiden und harrt bis zur Pause aus, um nach einem Autogramm zu fragen.

Julius Brink und Jonas Reckermann sind Deutschlands bestes Beachvolleyballteam. 2009, in ihrer ersten gemeinsamen Saison, holten sie den Weltmeistertitel. Ohne große Einspielpraxis. Als erstes europäisches Duo überhaupt. Bei den Olympischen Spielen in London treten die amtierenden Europameister als heiße Anwärter auf Medaillen an.

Volleyball auf dem Strand zu spielen kam in den zwanziger Jahren, in Kalifornien auf. Standen anfänglich „just for fun“ noch sechs Spieler im Team, traten ab 1947 bei offiziellen Turnieren nur mehr zwei an. Spätestens seit die Sandmänner 1996 um olympische Ehren kämpfen, ist der lifestylige Zuschauermagnet international anerkannter Leistungssport.

Das Grundlagenausdauertraining ist abgeschlossen. Im Trainingslager auf Fuerteventura Ende März wird daher am Ball trainiert und die Athletik verbessert. Das heißt: Zwei Stunden täglich Spielzüge üben oder harte Matches spielen. Am Nachmittag geht es für ein paar Stunden in den Kraftraum. Anschließend zur Massage.

Beim Abendessen mit internationalen Kollegen, die hier ebenfalls im Trainingslager schuften, sitzen Brink und Reckermann zwar nicht nebeneinander, aber doch am selben Tisch. „Bis auf sechs Wochen Spielpause verbringen Julius und ich jeden Tag zusammen“, sagt Reckermann, der zwei Meter Hüne schmunzelnd, „da muss man nicht auch noch beim Essen aufeinander hocken.“ Während sich Brink am Buffet nach Salat, Pasta und gegrilltem Fisch zum Dessert drei Stück Kuchen auf den Teller lädt, tritt Trainer Jürgen Wagner an den vollbesetzten Tisch. Reckermann springt sofort auf, um einen Stuhl zu holen.

„Wir sind konträre Typen, was uns zu einer starken Mischung macht“, meint Brink, „weil wir im Team viele Bereiche abdecken, die sportlich wichtig sind.“ Der gesprächige Abwehrspezialist bringt mit seinen 1,86 Metern nicht gerade Idealmaße für seinen Sport mit. Auf den ersten Blick entspricht er dem Image eines Beachboys: Blond, cooler Haarschnitt, muskulös, enges Karohemd, einnehmendes Grinsen. Rein optisch erinnert der 29-Jährige an Paul Janke, den aktuellen Bachelor aus der gleichnamigen Kuppelshow bei RTL, was Kollege Reckermann überaus lustig findet und gerne Witze darüber reißt. Dieser, seit September verheiratet, präsentiert sich zurückhaltend.

Der 32-jährige Blockspezialist erscheint leger in Jeans und T-Shirt. Rotes Haar, hellwach seine großen grünen Augen, das Gesicht voller Sommersprossen. „Jonas ist im Gegensatz zu mir super strukturiert. Ich profitiere von seinem Weitblick“, sagt Brink über seinen Kollegen. Und dieser über ihn? „Julius ist emotionaler als ich, was uns im Spiel und Training schon oft sehr geholfen hat. Julius ist ein unglaublicher Fighter.“ Das, so Reckermann, imponiere ihm.

Anderntags lugt Brink nach einer Trainingseinheit wieder und wieder auf das Mobiltelefon. Seine künftige Schwiegermutter, welche im Nachbarort urlaubt, wird ihn gleich zum Lunch besuchen. Dafür hat er einen Tisch auf der Terrasse reserviert, den Sonnenschirm aufgespannt und schnell ein frisches T-Shirt übergezogen. Und Reckermann verzichtet sogar auf seinen Mittagsschlaf, um die Dame zu begrüßen. Nach einer guten Stunde verabschiedet man sich mit viel Gelächter und herzlichen Umarmungen.

Beide haben sie früher Hallenvolleyball gespielt. „In einer Mannschaft aus sechs Spielern kannst du dir mal einen schlechten Tag erlauben“, sagt Brink, „aber ein Zweierteam verzeiht keine Schwächen.“ Und Reckermann gibt zu: „Sportpsychologisch gibt es keine schwierigere Kombination als ein Duo.“ Man müsse viele Elemente eines Einzelsportlers mitbringen, aber zugleich eine Teamleistung verantworten. Nach Niederlagen ginge man kurz getrennte Wege, was die emotionale Aufarbeitung betrifft, um sich später einer gemeinsamen Analyse zu widmen. Außer man befinde sich, ähnlich den Gruppenspielen beim Fußball, trotz einer Niederlage weiterhin im Turnier. „Dann hilft nur noch Fighten“, meint Brink gelassen und Reckermann bestätigt: „Klärungsbedarf gibt es nach verlorenen Spielen selten. Wir haben im Team verloren und damit basta.“

An die 100 Spiele absolvieren sie während einer Saison. Einen Großteil davon alleine auf der Worldtour der Fédération Internationale de Volleyball (FIVB) mit ihren weltweit 14 Stopps. Hinzukommen nationale Turniere, Europa- und alle zwei Jahre auch Weltmeisterschaften. Pro Saison sammelt jeder über 100.000 Flugmeilen und in etwa auch so viele US Dollar an Preisgeld. Hinzukommen Sponsorengelder und Mittel aus der Sportförderung sowie vom nationalen Volleyballverband. „Unsere Reisen, Trainer und Therapeuten finanzieren wir selbst“, so Reckermann, „aber wir wollen nicht klagen. Beachvolleyball ist eine junge Sportart. Dafür leben wir schon ganz gut davon.“

In einem 15.000 Zuschauer fassenden, temporären Stadion am Paradeplatz der Horse Guards wird vom 28. Juli bis 9. August 2012 in London um Olympisches Gold im Beachvolleyball gekämpft. „Wer behauptet, dies sei ein Wettkampf wie jeder andere, lügt“, so Reckermann, „nach dem ersten Ball bin ich aber derart fokussiert, dass ich alles um mich herum vergesse.“ Brink nimmt sich fest vor, nicht an die vielen Zuschauer vor den Bildschirmen zu denken. Das Spiel, das in London gespielt wird, sei schlussendlich dasselbe wie jenes hier auf Fuerteventura. Das versuche er sich jedenfalls einzureden.