Speer in die Hand und ab das Ding
Herr Wolfermann, wie frisch sind Ihre Erinnerungen an den 3.9.1972?
Olympisches Gold zu holen ist ein unglaublich emotionales Erlebnis. Man vergisst kein Detail. Ich könnte jeden einzelnen Moment schildern, aber das würde den Rahmen unseres Gespräches sprengen.
Sie haben damals den haushohen Favoriten Janis Lusis mit einer Wurfweite von 90,48 Metern besiegt. Was fühlten Sie als die Zuschauer im Olympiastadion minutenlang Ihren Namen skandierten?
Das war so gewaltig, dass es mir heiß und kalt zugleich den Rücken runter lief. Wenn die Nationalhymne für einen gespielt wird, ist das schon etwas ganz Großartiges. Aber wenn 80.000 Menschen im Olympiastadion, in deinem Wohnzimmer quasi, deinen Namen rufen, dann haut dich das fast um. Mich erinnerte das irgendwie an den „Jedermann“ bei den Salzburger Festspielen. Nur, dass die Menschen nicht „Jedermann“, sondern „Wolfermann“ gerufen haben. Mir sind diese Rufe heute noch im Ohr. Als wär’s gestern gewesen.
Das Titelbild vom Kicker/Ausgabe 11.9.1972 zeigt, wie Sie einander unmittelbar nach der Entscheidung sehr herzlich begegneten.
Dieses Bild ist echt stark im Ausdruck. Der Lette Janis Lusis war zu diesem Zeitpunkt mein großes Vorbild. Als ich ihn in München besiegte, war ich selbst derart überwältigt von den Ereignissen, dass ich mich erst einmal bei ihm dafür entschuldigt habe. Schließlich hatte ich mein eigenes Idol geschlagen! Meine Planung war eine ganz andere. Bronze wäre toll gewesen oder Silber, ja Halleluja, ein Traum! Aber Gold war für mich außer jeglicher Reichweite. Lusis war schließlich der stärkste Werfer der letzten Jahre und hatte vier Wochen zuvor Weltrekord geworfen. Und dann passiert so etwas: Ich werfe den Speer zwei Zentimeter weiter als er!
Aus dem Duell von damals ist eine Freundschaft entstanden, richtig?
Ein Beispiel: Als ich meinen 60. Geburtstag feierte, kündigten Freunde eine Überraschung an. Im Garten saß, verhüllt von einem Tischtuch, jemand auf einem Stuhl. Als ich es wegzog, kam Lusis zum Vorschein! Das war grandios. Zu seinem Siebzigsten war ich bei ihm in Riga. Ja, wir sind eng befreundet und sehen uns auch regelmäßig.
Der 3.9.72 ging als „goldener Sonntag“ in die deutsche Olympiageschichte ein. Man sprach sogar von der „goldenen Stunde“, in der Deutschland drei Goldmedaillen holte. Wie viel von der Magie dieser Stunde bekamen Sie damals eigentlich mit?
Wenn man seinen Wettkampf angeht, dabei eine Leistung verfolgt, auf die man sich vier Jahre vorbereitet hat, dann ist man extrem konzentriert. Ich hatte meine Jalousien heruntergelassen und war so fokussiert, dass ich vom Drumherum rein gar nichts mitbekommen habe. Als ich im Verlauf des Wettkampfes die Chance spürte, diesen Lusis eventuell zu knacken, war ich in einem Tunnel. Richtig erschrocken war ich, als man mir später Bilder vom Wettkampf zeigte. Mein Gesichtsausdruck, der war ja zum Fürchten! Ich war auf den Punkt fokussiert.
Die heiteren Spiele von München bekamen durch das Olympia-Attentat eine sehr tragische Seite. Ganz ehrlich: Wie froh waren Sie im Nachhinein, Ihren Sieg vor dem Attentat errungen zu haben?
Heilfroh war ich! Dieses Attentat hat uns unglaublich belastet. Wir standen alle unter Schock. Wenn mein Wettkampf erst danach stattgefunden hätte, hätte ich mich niemals so gut konzentrieren können. Die ausgelassene Freude über meinen Sieg währte nur kurz. Nach dem 5.9. nämlich, war plötzlich alles anders und unser Jubel verstummte. Es gab zwar noch Feierlichkeiten, aber in einem sehr gedämpften Rahmen.
Teilten Sie damals die Meinung des IOC Präsidenten Avery Brundage: „The Games must go on“?
Bis zu diesen Worten wurde in alle Richtungen spekuliert und argumentiert. Auch wir Athleten meinten im ersten Schock, die Spiele könnten so nicht mehr weiter gehen. Aber die Entscheidung, sie fortzusetzen, war die beste überhaupt. Man hat sich dem Terrorismus nicht gebeugt. Vielleicht würde es die Olympischen Spiele heute gar nicht mehr geben, wenn man sich in München für einen Abbruch entschieden hätte?
Hat man Sie eigentlich seit 1972 jemals bei offiziellen Anlässen ohne den Titel „Olympiasieger“ vorgestellt?
In der Tat werde ich seither immer als Olympiasieger vorgestellt. Dieser Titel ist anscheinend für die Ewigkeit. Olympisches Gold hat einen unglaublichen Stellenwert. Nicht nur für den Athleten selbst, auch in der öffentlichen Wahrnehmung. Es ist der sportliche Titel schlechthin. Etwas Größeres gibt es nicht.
Bei den Olympischen Spielen 1968 waren Sie dabei, als Janis Lusis Gold holte. Wenn Ihnen damals jemand prophezeit hätte, dass Sie vier Jahre später auch diesen Titel holen, was hätten Sie dieser Person entgegnet?
„Du spinnst total!“ hätte ich gesagt. Für mich war ja die Teilnahme an den Olympischen Spielen 1968 schon eine kleine Sensation, obwohl ich bereits in der Qualifikation ausgeschieden war. Aber ich hatte vor Ort im Dialog mit anderen Athleten unheimlich dazugelernt. In Mexiko entstand der Wunsch, in vier Jahren besser abzuschneiden. Entsprechend habe ich mein Training intensiviert. Ich kam verletzungsfrei durch diese Zeit und konnte ich mich auf den Punkt vorbereiten.
Wann haben Sie zum ersten Mal einen Speer geworfen?
Dass ich wurfstark war, hat sich bereits als Handballer abgezeichnet. Als Bub konnte ich auch den Schlagball über 100 Meter weit werfen. Im Alter von 17 Jahren dann wurde mir ein Holzspeer in die Hand gedrückt. Den habe ich, ohne die geringste Ahnung von Technik, einfach so rausgelassen, wie der liebe Gott mir die Bewegung gegeben hat: Speer in die Hand und ab das Ding! Als ich bei meinem ersten Wettkampf gleich 47 Meter schaffte, war klar, dass ich zumindest von der Anlage her einen Speerwerfer abgeben könnte. Mit gezieltem Techniktraining kam ich relativ rasch über 70 Meter und somit an die nationalen Spitze.
1973 haben Sie einen neuen Weltrekord geworfen. Wie wichtig war dieser Rekord?
Unmittelbar nach den Spielen häuften sich die Ehrungen und Festivitäten, ließ ich das Training etwas schleifen. Nach Weihnachten befiel mich schlechtes Gewissen, denn ich wollte natürlich als Olympiasieger beweisen, dass meine Leistung keine Eintagsfliege war. Ab Januar bin ich wieder Vollgas ins Training eingestiegen. Und Anfang Mai 1973 habe ich dann in Leverkusen diesen Weltrekord geworfen. Für mich waren diese 94,08 Meter sehr wichtig.
Nach Ihrem Karriereende als Speerwerfer 1978 stiegen Sie in den Rennbob und brachten es im Eiskanal noch einmal zu beachtlichen Erfolgen. Wie kamen es dazu?
Im Grunde entstand das auf dem Sportlerball in München aus einer Wette heraus. Der damalige Vizeweltmeister Georg Heibl aus Rosenheim hat mich angestachelt. Ich war dann drei Jahre bei ihm im Zweier- oder Viererbob auf der Bremse gesessen, habe später den Bobpilotenschein gemacht und mich dann ein Jahr lang selbst an den Lenkseilen betätigt.
Treiben Sie heute noch aktiv Sport?
Im Keller meines Hauses stehen ein paar Fitnessgeräte, an denen ich täglich trainiere. Im Sommer bin ich außerdem viel mit dem Rennrad unterwegs oder auf dem Golfplatz. Im Winter gehe ich regelmäßig Langlaufen oder mit meinem Enkelkind zum Skifahren. Sport ist nach wie vor mein Leben. Ich brauch das einfach.
Waren Sie eigentlich schon einmal in Otto Kochs Sterne-Restaurant „181“ im Olympiaturm?
Ja, ich war schon öfter dort. Das letzte Mal im Spätherbst mit Janis Lusis zum Mittagessen. Wir schwelgten in Erinnerungen und haben den Ausblick genossen. Lusis meinte, man könne der Stadt München nur gratulieren. Er kenne weltweit keine Olympia-Sportstätte, die nach so vielen Jahren noch so intakt und zeitlos schön sei und obendrein auch noch genutzt wird. Gibt es eine schönere Aussage für eine Olympiabewerbung?
Was steht am 6. Juli 2011 in Ihrem Terminkalender?
Da müsste ich nachschauen. Wieso? Ach, ja, doch Durban, ja genau. Die Olympia-Entscheidung! Ich habe ein gutes Gefühl für diesen Tag. Es wäre toll für München und die gesamte Region, wenn wir die Spiele 2018 bekämen. München wäre die erste Stadt, die Olympische Sommer- und auch Winterspiele ausrichten könnte. Von Olympischen Spielen geht eine unglaubliche Faszination aus. Sport ist nach wie vor ein starkes Medium in der Völkerverständigung. Nicht nur sportlich, auch kulturell wäre es eine riesen Chance für uns. Ich gehe sogar soweit zu sagen: Bayern, ganz Deutschland braucht diese Spiele!