Sport verbindet. Google nicht.
Herr Fliege, welche Erinnerung haben Sie an die Olympischen Spiele 1972 in München?
Eine merkwürdiger Weise biografisch ganz wichtige. Mein Vater, ein Geschäftsmann und nebenbei der Vereinsvorsitzende vom TSV Schwarz Weiß Radevormwald, dem Heimatverein von Heide Rosendahl, hatte sich massenhaft Karten für die Spiele in München besorgt. Sicher, um Heide live zu sehen, aber auch um ein Geschäft zu machen. Wie der liebe Gott so spielt, wurde mein Vater zu den Spielen schwer nierenkrank, ist einige Jahre später daran auch verstorben. Damals, 24 Jahre alt, musste ich dann diese Tickets verscherbeln, hatte also eine mehrere tausend Mark schwere Last zu tragen und bin mit meinem R4 und meiner damaligen Flamme für drei Tage nach München gefahren. Im Rückblick war das eine Tour ins Erwachsenwerden.
Und? Alle Tickets losgeworden?
Ja. Hinterm Rathaus standen damals zahlreiche Olympia-Infostände. Dort blühte der Schwarzmarkt. Das war mein Umschlagplatz.
Der junge Jürgen Fliege hat also hinterm Münchner Rathaus Sünde begangen?
(Lacht herzlich) Wenn Sie so wollen, ja. Mit spießiger Kirchenmoral braucht man mir ohnehin nicht zu kommen. Ich habe in meinem Leben bereits alle 10 Gebote gebrochen.
Mein Gott, auch das fünfte?
Ja, als Fischhändler war ich auch stolz zu töten. Außerdem: wenn man sein Leben lang mit Menschen zusammen ist, die zwischen Tod und Leben unterwegs waren, dann steht man bewusst oder unbewusst irgendwie in der Verantwortung. Das spürt man.
Kannten Sie Heide Rosendahl persönlich?
Wir waren Sandkastenfreunde. Heide war zwar in der katholischen Grundschule, ich in der evangelischen, aber unsere Eltern waren eng befreundet. Heide ist bereits als kleines Mädchen viel weiter gesprungen als wir Jungs. ‘72 dann war ich einerseits stolz auf Heide, gebe aber zu, sie um ihren großen Erfolg auch beneidet zu haben. Später, als ich ebenfalls Erfolg hatte, lud ich sie natürlich einmal in meine Sendung ein.
Wie sportlich ist Fliege eigentlich?
(Lacht) Mein Sport mit über 60 Jahren drückt sich eher in Form von Gartenarbeit aus. Und sonst? Ich habe ein Segelboot am Starnberger See, fahre gelegentlich Ski, wandere auch mal, laufe viel zu Fuß, fahre Fahrrad, bin aber im Sport kein Wettkampftyp.
Wie steht Fliege zur Olympia-Bewerbung 2018?
Ich bin dafür, finde Olympische Spiele gut. (Lacht) Vielleicht verkaufe ich 2018 am Bahnsteig in Tutzing ja Würstchen an alle Besucher, die mit der Bahn nach Garmisch-Partenkirchen bzw. München fahren.
Gilt in einem Leistungszeitalter das olympische Motto „Dabei sein ist alles“ noch?
Also gerade im Leistungssport kann das ja gar nicht gelten. Hätte Baron de Coubertin mit diesem Satz heute noch Recht, gäbe es keine Dopingkontrollen. Dennoch glaube ich, dass man sich von solchen Idealen nicht so schnell verabschieden darf.
Es waren in dieser Serie Sportler zu Gast, die glaubhaft erklärten, dass es unabhängig von Medaillen, das Größte war, überhaupt an Olympischen Spielen teilzunehmen.
Ja, das nehme ich denen auch ab. Für Sportler mit geringen Aussichten auf einen Sieg gilt das sicher. Aber auf dem Treppchen ist das anders. Den Oscar will man ja auch gewinnen, nicht nur dafür nominiert sein, oder?
Man sagt, Olympische Spiele dienten der Völkerverständigung. Hohle Floskel oder Fakt?
Natürlich ist das so! Fußball verbindet, Sport verbindet. Wir sind in Zeiten von Google theoretisch ständig mit der ganzen Welt in Kontakt. Bei einer realen Begegnung aber verbindet sich konkret etwas. Bei einer Eröffnungsfeier zu Olympischen Spielen etwa, da heult jeder: die Athleten, Zuschauer im Stadion und auch viele vor dem Fernseher. Eine reale Begegnung, die kriegst du im Sport, aber nicht bei Google.
Weinen Sie auch bei Eröffnungsfeiern oder Siegerehrungen?
Nein, ich heule nicht bei Siegerehrungen. Auch nicht, wenn Deutschland Fußballweltmeister wird. Aber ich freue mich aus tiefstem Herzen und stehe auf, wenn die Hymne gespielt wird. Sport schenkt uns Menschen doch eine Heimat. Das ist großartig. „Wir sind Papst“ funktioniert ganz ähnlich. Wir leben doch alle vom Zugehörigkeitsgefühl.
Im negativen Erleben dann auch? Sind wir also auch Jan Ullrich, der Dopingsünder?
In der Tat, ja, wir sind beides. Sportler sind ein Spiegel. Wir müssen auch die Schattenseite annehmen und sollten auf einen so genannten Sündenbock nicht draufhauen. Wir haben doch alle unseren Schatten. Und wenn wir diesen durch Jan Ullrich erkennen können, dann finde ich, sollte man menschlicher oder freundlicher mit Verlierern oder so genannten Betrügern umgehen.
Taugen Sportler als Vorbilder?
Sie sind es! Ob sie dafür taugen, ist eine andere Frage. Aber erst einmal i s t ein Spitzensportler ein Vorbild. Vor allem für Kinder und Jugendliche. Als ich jung war, standen wir auf John Wayne und sind mit krummen Beinen aus dem Kino gekommen oder haben – wie ich – Theologie studiert, weil wir Don Camillo und Peppone im TV gesehen haben. Als Boris Becker und Steffi Graf so erfolgreich waren, wollten alle Kinder Tennisspielen. Kinder lernen zu allererst mit den Augen, die interessiert doch nicht, was jemand sagt. Sportler kann man gut nachmachen, imitieren. Also sind Sportler Vorbilder.
Muss ein Sportler verantwortlich mit dieser Rolle umgehen?
Wenn er auf dem Siegertreppchen steht, hat er alles richtig gemacht. Dafür wird er bezahlt. Schmerzensgeld und Vorbildfunktion inklusive. Aber ein Sportler sollte sich nicht weiter als Vorbild verbiegen.
Ich will den lieben Gott ja nicht überstrapazieren, aber was sagt er dazu, wenn manche Sportstars Millionäre sind und andere Spitzensportler von der Sporthilfe leben?
Strapazieren Sie ihn ruhig! Der liebe Gott hält nichts von Gerechtigkeit. Der nimmt einer Mutter ein Kind, einem anderen die Frau, er schickt einem Krebs, dem anderen nicht. Das Leben ist nicht gerecht und Gott auch nicht. Wenn er überhaupt im Sport eine Rolle spielt, dann um dem Verlierer Trost zu spenden.
Wie würde Fliege einen Sportler nach einer schweren Niederlage trösten?
Ich würde ihn tagelang in Ruhe lassen. Mit etwas Abstand aber würde ich das Gespräch suchen. Ein Sportler sucht das Duell, vergleicht sich mit anderen. Wer nach dem Sieg trachtet, muss wissen, dass er auf einem Schattenweg unterwegs ist. Denn wer sich vergleicht, wird früher oder später auch verlieren. Niederlagen hinterlassen tiefe Wunden. Scheiße gelaufen . . . aber diese Wunde muss man dann auch akzeptieren.
Mehr als Siege gehören Niederlagen zum Sport. Lehrt Sport Demut?
Für Demut und Güte braucht man Stille und Ruhe, eine Art Andacht und Bewegungslosigkeit. Ein Sportler ist nicht still, er ist per se in Bewegung. Ich glaube die Wahrscheinlichkeit, dass man an vielen Niederlagen verbittert, ist deutlich größer als dass man demütig wird. Wer immer nur Zweiter wird, rutscht oft in die Opferrolle und sucht nach Ausreden. Das hat mit Güte nichts zu tun. Demut und Güte sehe ich bei Spitzensportlern in der Niederlage kaum.
Sind Eröffnungsfeiern Olympischer Spiele auch spirituelle Zeremonien?
Sehr sogar! So wie jeder Gesang in einer Südkurve ein höchst religiöses Ereignis ist. Schalke 04 ist eine Religion. Borussia Dortmund ist eine Religion, der TSV 1860 ist es auch.
Der FC Bayern?
Ja, ich denke auch. (Lacht) Und Uli Hoeneß ist der Papst! Religion ist deine Heimat. Als Sportfan bist du also religiös, weil du zugehörig bist, dich etwa bei einem Verein zu Hause fühlst. Das ist die religiöse Komponente. Und wenn diese auch noch durch Rituale, Gesänge, Inszenierungen, Flaggen, Symbole, das Olympische Feuer unterstützt wird, ist das eine äußerst spirituelle Sache.
Ist ein Hooligan fanatisch religiös?
Genau so ist es. Das sind Fundamentalisten, die neben sich nichts anderes tolerieren und sich für Ihre Religion sogar prügeln.
Sind Paralympische Spiele eine geeignete Bühne für Behinderte um deren Integration zu fördern?
Ich ahne, in welche Richtung Sie denken. Erst einmal grenzt so eine Veranstaltung ja aus. Schließlich starten sie nicht bei den Olympischen Spielen, sondern bei den Paralympics. Und: zu einem anderen Zeitpunkt. Außerdem weckt Behindertensport manchmal auch Mitleid, wofür man sich als Zuschauer eventuell sogar schämt. Unser Auge will die Wunden nämlich nicht sehen. Und gerade deshalb ist es so wichtig, genau dort hinzuschauen. Das erfordert eine gewisse Disziplin. Für einen Behinderten ist es wichtig, die Behinderung zu leben, sie nicht zu kaschieren. Und unsere Aufgabe ist „Ansehen“ im Sinne von „Hinschauen“. Ein Behindertensportler lebt wie jeder andere Sportler von Ansehen. Wer Ansehen hat, hat Würde.
Werfen wir einen Blick nach Garmisch-Partenkirchen. Eine ohnehin schon gespaltene Marktgemeinde debattiert kontrovers über die Olympiabewerbung. Ist zu diesem Thema die Kirche gefragt?
Nein. Die Kirche soll nicht überall mitreden. Wäre ich aber Pfarrer in Garmisch-Partenkirchen, hätte ich ein dickes Problem, denn die Gemeinde spaltet sich.
Was würden Sie tun?
Ich würde den Stier bei den Hörnern packen und das Problem beim Namen nennen. Als Pfarrer würde ich sagen: Leute, wenn wir so weitermachen, kann es sein, dass wir uns - wie bei Romeo und Julia - wegen Olympia so verfeinden, dass unsere Kinder nicht mehr miteinander spielen. Wollen wir das? Was können wir aus diesem Konflikt lernen? Zum Beispiel, dass wir im Leben manchmal Dinge akzeptieren müssen, auch wenn sie uns nicht gefallen. Lasst uns dankbar sein, dass wir eine große Aufgabe vor uns haben, von der wir viel lernen können.
Nun wollten einige Landwirte anfänglich ihre Grundstücke nicht zur Verfügung stellen, was deren gutes Recht ist. Wie hätte Fliege so jemanden betreut?
Es ist das gute Recht eines Menschen, nein zu sagen und Asterix zu spielen, also vehement Widerstand zu leisten. Ich hätte den Landwirten aber auch deutlich gemacht, dass sie zwischen Pest und Cholera wählen. Gibst du dein Grundstück her, entspricht das nicht deinem Willen. Verweigerst du aber total, wirst du ebenfalls leiden. Da kann es passieren, dass sich Menschen von dir abwenden, Nachbarn nicht mehr mit dir reden, du in deinem Verein nicht weiter willkommen bist, die Medien dich jahrelang belagern, weil du vielleicht tatsächlich enteignet worden wärst, also ein Opfer der Spiele bist.
So eine Situation hat das Potenzial einen richtig fertig zu machen. Als Pfarrer hätte ich die Grundstückseigner an die Hand genommen und gefragt, was sie am ehesten bereit sind zu akzeptieren. Einlenken und seine Ruhe haben? Oder weiter kämpfen, mit allem, was dazugehört? Bist du Asterix oder nicht? Das ist hier die Frage. Hätte ich aber festgestellt, was ich allerdings bezweifle, dass derjenige wirklich bereit ist, mit dem Kopf durch die Wand zu gehen, dann hätte ich ihn auch dabei begleitet, der Michael Kohlhaas von Garmisch-Partenkirchen zu sein. Aber wer klug ist, kann umkehren. Offensichtlich ist das dieser Tage ja auch passiert.
1935 wurden auf den Druck der NSDAP die beiden Gemeinden Garmisch und Partenkirchen für die Olympischen Spiele 1936 unfreiwillig zusammengeschlossen. Jetzt spaltet Olympia wieder die Marktgemeinde. In München kam es 1972 zum tragischen Attentat. Karmatisch nicht besonders gut. Sind die Olympischen Spiele vielleicht gerade deshalb eine große Chance für uns?
Darüber wollen Sie wirklich reden? Diese Frage finde ich super spannend. 1936 hat sich ein Faschist Olympia nutzbar gemacht. 1972 haben sich auf einer anderen Ebene wieder Faschisten der Olympischen Spiele bedient. Wobei man an dieser Stelle natürlich dazu sagen muss, dass wir in beiden Fällen als Volk eine Rolle gespielt haben. Fürstenfeldbruck ist auch unsere Schuld. – Wir waren daran beteiligt. Tief in unserem Herzen könnte es also heißen: Bitte gebt uns eine dritte Chance! Dass wir gerade vor diesem Hintergrund die Olympischen Spiele wieder ausrichten möchten, das muss ich sagen, fände ich einen wirklich tollen Ansatz.
Am 6. Juli entscheidet das IOC, wer die Spiele 2018 ausrichtet. Wie beurteilen Sie unsere Chancen?
Das IOC wird in Durban darüber entscheiden, ob Südkorea, quasi aus Barmherzigkeit, im dritten Anlauf belohnt wird. Lässt das IOC aber Tradition hochleben, entscheidet man sich für uns. Da Olympia stark von Tradition lebt, stehen unsere Chancen recht gut.
Geschieht am 6. Juli auch „sein Wille“? Wird also das passieren, was für uns am besten ist?
Es geschieht, was geschieht. Bekommen wir den Zuschlag, werden wir tolle Gastgeber sein. Gehen die Spiele aber nach Pyeongchang, dann werden wir als faire Gäste in die Welt hinausfahren. Ob als Gastgeber oder Gast – beides ist schön und entspricht doch dem olympischen Gedanken? (Lacht) Dabei sein ist doch alles, oder?