Trikottausch im Eis
Text von Johanna Stöckl nach Aufzeichnungen von Ines Papert
Mit mobilen Sicherungen ausgestattet nehme ich die Mixedlänge in Angriff. Der Fels gibt tatsächlich Risse für Camelots und Keile her. Ein letztes Mal sichere ich mich an der Eisglasur. Jetzt geht es an den gigantischen Eiszapfen. Vorsichtig lehne ich mich vom Felsen nach außen. Schlage mit dem linken Eisgerät in den Zapfen. Behutsam schwinge ich die Beine hinüber. Als ich das rechte Eisgerät einschlage, plötzlich ein Riss unmittelbar darunter! Der tonnenschwere Zapfen bricht ab und stürzt mit fürchterlichem Getöse in die Tiefe. Adrenalin schießt durch meine Adern. Erhöhter Herzschlag. Jetzt klaren Kopf bewahren! Ich hänge mit beiden Füßen in der Luft. Pendle langsam zurück an die sichere Glasur am Felsen. Was ist mit Thomas, der unter einem felsigen Überhang platziert ist? Ich rufe nach ihm. Er schreit zurück. Puuh, noch einmal gut gegangen!
Der Schreck sitzt tief und muss erst einmal verdaut werden. Bin ich am ersten Tag der Reise etwa übermotiviert? Möglich. Ich interpretiere den Vorfall als mahnende Warnung, Wink des Schicksals, bin dankbar und beruhige mich zusehends. Sollen wir die Route beenden? Ja, denn jetzt besteht keine Gefahr mehr. Dennoch muss das neu entstandene Eisdach mit größter Anstrengung überwunden werden. Wir schaffen es und geben der Route den doppeldeutigen Namen „Surprice“.
Intensive Erlebnisse enden nicht selten im Wirtshaus. Und manche beginnen eben dort. Im Spätherbst 2011 sitzen mein Kletterkollege Kurt Astner und ich nach einem herrlichen Klettertag im Zillertal im Gasthaus Karlsteg in Ginzling. Am Nachbartisch quasseln Rudi Hauser und Lukas Seiwald eifrig über ihren für Februar 2012 geplanten Eisklettertrip nach Norwegen. Wir hören interessiert zu. Offen und herzlich wie Österreicher eben sind, fragen sie uns spontan, ob wir nicht Lust hätten mitzukommen, um ein scheinbar wunderbares Gebiet auf Neurouten hin zu erforschen.
Rudi Hauser hatte nämlich über Google Earth gesehen, dass in den Romsdaler Alpen haufenweise steile, bis zu 1.000 Meter hohe Wände, wie er selbst sagt „rumstehen“. Der Trolltidan, welcher die Täler von Romsdalen im Osten und Isterdalen im Westen trennt, mit seiner spektakulären Bigwall, der Trollwand, ist zwar der prominenteste Berg in dieser Region, jedoch nur einer unter vielen. Basejumper pilgern scharenweise in dieses Gebiet, was ein viel versprechendes Zeichen für anspruchsvolle Routen ist. Hinzukommt, dass es in Norwegen bekanntermaßen recht viel Wasser gibt. Für Rudi Grund genug im Dezember 2010 die virtuelle Eiswelt zu verlassen. Er reist nach Norwegen um sich vor Ort ein konkretes Bild zu machen. Und siehe da: Er befindet sich, bei minus 20 Grad Celsius, im Paradies. Massive Eisfälle, fragile Säulen und lange Mixed Varianten. Praktisch alles da, was ein Eiskletterherz begehrt. Als ihn im Februar 2011 sein Kumpel Lukas Seiwald dorthin begleitet, lässt jedoch eine Warmfront ihre Träume dahin schmelzen. Sie klettern was noch möglich ist, unter anderem den legendären Mardalsfossen, und nutzen die restliche Zeit um das Gebiet ein wenig zu erkunden. Dabei entdecken sie eine idyllisch am Sunndalenfjord gelegene Hütte und machen Bekanntschaft mit ihrer Besitzerin Perly. Sie reservieren für den nächsten Winter.
Anfang Februar 2012 fliegen wir über Amsterdam nach Trondheim. Die beiden Österreicher Rudi Hauser und Lukas Seiwald, Kurt Astner und Emanuele Ciullo aus Italien, der Schweizer Fotograf Thomas Senf, Kameramann Scott Milton aus Kanada und meine Wenigkeit. Mit einem Mietwagen fahren wir an Norwegens Westküste. Eine traumhafte Region! Fjorde ziehen sich als steile Schluchten tief ins Land. Links und rechts bauen sich gewaltige Felswände auf. Mehrere hundert Meter hoch. Atemberaubend! Wir kreischen vor Freude und können es kaum erwarten. Als wir unser überaus komfortables Basislager, die so genannte Lachshütte, beziehen, steigern sich Vorfreude und Motivation schier ins Grenzenlose. Zwei traumhafte Wochen liegen vor uns.
Ich bin neben sechs Männern die einzige Frau im Team. Wer glaubt, klassische Rollenverteilung und so, irrt gewaltig. Gleich am ersten Tag kauft Chefkoch Rudi unter anderem erst einmal ein ordentliches Filettiermesser und pimpt unser Küchenequipment auf. Wenn wir nach erfolgreichen Klettertouren „nach Hause“ kommen, verwandelt sich unser Wohnzimmer binnen Minuten in ein Kletterfachgeschäft. Allerdings mit leicht chaotisch arrangiertem „Sortiment“. Heißt: kollektives Aufräumen ist angesagt. Rudi, noch in Klettermontur, beginnt zu kochen und teilt ganz nebenbei jeden von uns ein. Holz holen, Wäsche Trocknen, Abspülen, Jacuzzi heizen, Gemüse schnippeln, Wasser kochen, Bier einkühlen, Rotwein öffnen,...
Die ersten Klettertage gestalten sich noch relativ schwierig. Sehr spärlich die Informationen zum Gebiet. Im Internet kannst du wenig in Erfahrung bringen, denn die überaus starken norwegischen Kletterer sind eine eingeschworene Gruppe, die ihre Erfolge nicht an die große Glocke hängt. Für uns heißt das anfangs: wir steigen dort ein, wo unser Auge eine tolle Linie vermutet. Nicht wissend, ob wir eine Route wiederholen oder eine Erstbegehung starten.
Kurioser Weise wird unsere Vermieterin Perly, die mit ihrer Familie im Nebenhaus wohnt, der Schlüssel zum Erfolg. Sie ist nicht nur ein wahres Organisationsgenie, sondern auch überaus aktiv auf Facebook und dort unter anderem mit der Kletterlegende Björn Magne Overas befreundet. Wie viele norwegische Sportler arbeitet auch er Off-Shore auf einer Ölplattform und nutzt die langen Pausen zwischen seinen Einsätzen um als Kletterer aktiv zu sein. Als er uns kurzerhand besucht, zeigt er uns tolle Bilder und überschüttet uns mit spannenden Geschichten und Informationen. Bereits in den Achtzigern plante er mit Biwak den Durchstieg des Mardalsfossen. Leider brach der Schaft seines Eisgerätes, welcher damals noch aus Bambus war. Heute, Mitte 50, klettert Björn immer noch, allerdings mit deutlich besserer Ausrüstung. Dank seiner Hilfe bringen wir in Erfahrung, welche Routen noch jungfräulich sind und welche wir – nichts ahnend – bereits erstbegangen hatten.
Nomen est omen? Perly ist eine Perle von Mensch, ein wahrer Schatz, ein echtes Goldstück. Auf so ziemliche jede Frage hat sie eine Antwort. Probleme? Löst sie. Brauchst du etwa ein Boot, um über den Fjord zu den gegenüber liegenden Eisfällen zu gelangen, frag einfach Perly. Sie macht es im Handumdrehen möglich. Außerdem versorgt sie uns täglich mit fangfrischem Lachs. Sie hat uns in ihr Herz geschlossen und wir sie in unseres. Wir versprechen wiederzukommen. Kurz vor unserer Abreise schenkt sie mir als Andenken sogar zwei handgestrickte Norwegerpullis. Einen für mich und einen für meinen Sohn Manu. Als Zeichen meiner Freundschaft und Dankbarkeit überlasse ich ihr im Gegenzug zwei meiner Arc’teryx Jacken für ihre Töchter, welche wir mit unseren Erzählungen für das Klettern begeistern konnten. Wie beim Fußball, nur in den Bergen: Trikottausch. Auch eine Mixedlinie, die Thomas Senf und ich am Tag vor unserer Abreise nach zahlreichen Stürzen endlich frei klettern können, widmen wir mit dem Namen „Perly on Ice“ unserer Pflegemutter.
Häufig tun sich Senfi und ich mit Lukas und Ciullo, dem Jüngsten im Bunde, zusammen. Rudi und Kurt bilden andererseits meist eine überaus schlag- und zugleich wortkräftige Seilschaft, worüber wir liebend gerne Witze reißen. „Gewaltig“ , „hammermäßig“ oder „ultimativ“ sind als Adjektive sehr beliebt, wenn die beiden bis spät in die Nacht ihre mit der GoPro gefilmten Videos analysieren.
Senfi ist mindestens so angetörnt wie ich als wir in Eikesdal an orange-gelbem Eis klettern. Der beeindruckende, goldschimmernde Zapfen erinnert uns von der Form her an die Beine der sündhaft teuren Kamtschatkakrabben, die Rudi am Vortag in den Kochtopf befördert hat. Die schwierige Kletterei am Felsen lässt kaum mobile Sicherungen zu, weshalb wir fünf Bohrhaken setzen. Ein Spannweitenzug wird zur Schlüsselstelle, die ich erst nach mehreren Versuchen und dem Absturz eines Eisgerätes knacken kann. Wir taufen die neue Route „50 Dollar King Crab“ in Anlehnung an unser Entsetzen über den Pro-Kopf-Preis für ein paar relativ fleischlose Krabbenbeine.
Mein persönliches Kletterhighlight erlebe ich gemeinsam mit Lukas und Scott. In einem Fischerboot schippern wir von Eisvag aus über den Eresfjord an die gegenüber liegende Steilwand. Dort gelingt uns hoch über dem Ford „Sea Gull Jonathan“, während Rudi, Kurt und Senfi „Off Shore“ knacken. Zwei nebeneinander verlaufende Linien, die noch keiner vor uns geklettert ist. Ein Gruppenerlebnis der ganz besonderen Art. Als ich abends im Jacuzzi sitzend zum ersten Mal in meinem Leben ein Nordlicht sehe, ist das Glück perfekt.
Danke Rudi, dass ich bei eurem ultimativen Trip nach Norwegen dabei sein durfte. Hammermäßig, wie gut wir im Team funktionierten. Gewaltig, was wir zusammen erreicht haben ☺, oder?
Info
Erstbegehungen Ines Papert und Partner
Sunndalen/Litldalen: Surprice, WI6+/M8, 350m, Ines Papert, Thomas Senf
Eikesdal: Quattro Nazioni, WI6/M9/A1, 500m, Ines Papert, Lukas Seiwald, Thomas Senf, Emanuele Ciullo
Eresfjord: Sea Gull Jonathan, WI6, 250m, Ines Papert, Lukas Seiwald
Eikesdal: 50 Dollar King Crab, WI6/M10, 300m, Ines Papert/ Thomas Senf
Sunndalen/Powerhouse: Perly on Ice, WI 6/M9, 70m, Ines Papert, Thomas Senf
Facts
Anreise: Flug (KLM) von München über Amsterdam nach Trondheim für sagenhafte € 250,00. Mit dem Mietwagen ging’s von dort aus an die Westküste nach Sunndalen, in Perlys Hütte am Fjord. Preis pro Woche € 900,00.
hut.no/ger/index.html
Anfahrt zu den Klettergebieten: zum Teil mit der Fähre, zwischen 30 und 90 Minuten in die umliegenden Täler.
PS.: Bier ist sehr teuer in Norwegen, weshalb wir uns anfänglich noch etwas zurückgehalten haben. Über die Tage allerdings haben wir uns notgedrungen an die hohen Preise gewöhnt ☺