Zitterpartie

Der 15-jährige Schüler Maurice Wiese aus Frankfurt schreibt als erster Slackline-Weltmeister Sportgeschichte. Als Ende der Achtzigerjahre Kletterer im Yosemite Valley bei Schlechtwetter zum bloßen Zeitvertreib Balanceübungen auf gespannten Seilen übten, ahnte niemand, dass sich daraus einmal eine eigenständige Sportart mit rasanten Zuwachszahlen entwickeln würde.

Beim diesjährigen International Mountain Summit (IMS) in Brixen/Südtirol stahlen junge Seilakrobaten gestandenen Bergsteigern die Show. Die besten Slackliner der Welt waren nach Brixen eingeladen, um die erste Weltmeisterschaft in dieser jungen Trendsportart auszutragen.

Salopp übersetzt bedeutet Sackline ‚Schlappseil’ und bezeichnet einen circa fünf Zentimeter breiten Spanngurt, der an zwei Befestigungspunkten fixiert wird, um darauf zu balancieren. Ähnlich wie beim Seiltanzen bedarf es eines gewaltigen Balancegefühls, um überhaupt erst einmal auf die Slackline zu kommen oder etwas später nicht schon beim ersten Gehversuch vom Gurt zu kippen. Denn die schmale Slackline ist im Vergleich zum altehrwürdigen Schwebebalken etwa ein äußerst unberechenbares, wackeliges und instabiles Sportgerät.

Als vergangenen Freitag Abend die Weltelite zeigte, wozu sie auf der Slackline fähig ist, hielt es in der Sporthalle Brixen keinen der 1200 Zuschauer mehr auf den Sitzen. Man klatschte, schrie und kreischte. Vor Begeisterung. Ohnehin war bei dieser Veranstaltung so ziemlich alles anders als bei anderen Sportgroßereignissen. Während die Finalisten gegeneinander antraten, dröhnte laute Musik aus den Boxen, war es ziemlich dunkel in der Halle. Das wenige Licht war auf die Slackline und den Akteur gerichtet. Wie sich ein Sportler bei diesem Lärm überhaupt konzentrieren kann, bleibt ein Rätsel. In spektakulären Auftritten jedoch, die Gleichgewicht, Gelenkigkeit, Koordination und Körperspannung gleichermaßen fordern, haben sie es bewiesen. Zu sehen gab es unzählige Tricks und Sprünge, die einen nur noch staunen ließen.

Die beiden Finalisten lieferten sich schließlich ein Akrobatikduell vom Allerfeinsten. Als Andy Lewis, zu Hause in den USA ein echter Star, einen Backflip (Salto rückwärts) stand, schien der Bewerb entschieden. Doch Maurice Wiese, ein 15 Jahre alter Schüler aus Frankfurt, legte einen drauf, stand unter tosendem Applaus ebenfalls einen Rückwärtssalto und überzeugte mit atemberaubenden Tricks in sauberer Ausführung. Nachdem die Jury als Sieger Maurice ‚Momo’ Wiese verkündete, fiel dieser unter Tränen seinem großen Vorbild und Kontrahenten Andy Lewis um den Hals.

„Ich kann das alles noch gar nicht glauben“ sagt er im ersten Interview vor laufender Kamera und zeigt stolz seinen Siegerscheck im Wert von € 1.000. „Im Finale war ich wie in Trance. Ich habe rein gar nichts mitbekommen, was um mich herum passiert.“ Begonnen hat er mit dem Sacklinen vor drei Jahren als er einen Beitrag im Fernsehen darüber sah. Dass er heute zu den ganz Großen seiner Zunft gehört, ist Ergebnis von hartem Training. „Den Garten meiner Eltern zu Hause in Frankfurt habe ich in einen Slackline-Park umgewandelt“ grinst er. Schließlich erfährt man, dass der junge Weltmeister nicht weiter über seine Erfolge sprechen kann, schließlich hätte ein dem SPIEGEL ein Exklusivinterview zugesagt. Was man ihm gerade noch entlocken kann: „Ja, meine Familie ist sehr stolz auf mich!“ Dann packt ihn ein Mitstreiter an den Schultern und zieht ihn an fort. „Jetzt wird gefeiert!"